Am 23. Oktober 1879 eröffnet Siemens & Halske (S&H) in der Wiener Magdalenenstraße 12 sein erstes Technisches Büro in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, das zunächst Arnold von Siemens, der älteste Sohn des Firmengründers, leitet. Im Unterschied zu früheren Bemühungen, im Reich der Habsburger Fuß zu fassen, ist das Elektrounternehmen diesmal erfolgreich. Heute, 140 Jahre später, zählt Siemens Österreich zu den führenden Technologieunternehmen des Landes und beschäftigt rund 8.900 Mitarbeiter:innen. Und mehr noch: Seit über zwei Jahrzehnten hat Siemens Österreich die Regionalverantwortung für den Wirtschaftsbereich Lead Country Austria, dem gegenwärtig 26 Länder mit insgesamt rund 269 Millionen Einwohnern angehören.
„Wien hat mir recht gut gefallen“ – Werner von Siemens‘ erste Reise in die Donaustadt
Ende Februar 1855 hält sich Werner von Siemens erstmals in Wien auf. Sein Ziel ist es unter anderem, das österreichische Telegrafenamt, das sich seit kurzem mit Verfahren des Gegensprechens auf Telegrafenleitungen befasst, von der Übernahme der von ihm entwickelten Methode des Gegensprechens mit elektromagnetischen Apparaten zu überzeugen.
Am 23. Februar, dem Tag seiner Ankunft, schildert er seiner Frau Mathilde, welchen Eindruck Wien auf ihn macht: „Keine Petersburger-Berliner Regelmäßigkeit, auch keine Pariser-Londoner Ladenpracht, aber gemütliche Reinlichkeit mit Bewahrung vollständiger Originalität, solide Gebäude und prächtige Paläste.“ Die positive Grundstimmung, die er zu Beginn seines Aufenthalts ausstrahlt, droht Anfang März zu kippen: „Mir ist es in letzter Zeit weniger gut und befriedigend gegangen. Man kommt nicht recht vorwärts.“ Das liegt auch daran, dass „beim Gegensprechen selbst […] einige bedenkliche Erscheinungen vorgekommen, die ich notwendig gründlich erforschen muss – kurz, es ist noch viel zu tun und doch habe ich gar keine Lust mehr zu bleiben.“ Trotzdem hofft er, dass seine Anwesenheit vor Ort nicht ohne Nutzen für das Unternehmen sei, schließlich habe er große Bewegung in das hiesige telegrafische Lager gebracht. Zurück in Berlin betont er gegenüber seinem Bruder Carl, dass „Österreich […] sich uns in die Arme werfen zu wollen [scheint]“ und relativiert zugleich: „Es geht nur dort alles langsam!“ Und in der Tat wird es noch drei Jahre dauern, bis sich das Unternehmen – zumindest zwischenzeitlich – in Wien etablieren kann.
Im ersten Anlauf gescheitert – Wiener Intermezzo von Siemens & Halske
Am 7. Januar 1858 reist Werner von Siemens in Begleitung seines Geschäftspartners Johann Georg Halske erneut nach Wien mit dem Ziel, neue Absatzmärkte zu gewinnen.
Ich bin mit dieser Reise sehr zufrieden. Wir wurden sehr zuvorkommend von den Ministern, Telegraphendirectoren etc. aufgenommen und die Aussichten daselbst scheinen in der That brillant zu sein. Wir werden vorläufig in Wien eine Filiale einrichten und dann sehen wohin endgültig unser Schwerpunkt fällt.Werner von Siemens an seinen Bruder William, 19. Januar 1858
Das Angebot, diverse Telegrafenlinien errichten zu dürfen, führt zum Erwerb eines Grundstücks in der Wiener Vorstadt Landstraße und zur Einrichtung eines Büros mit einer kleinen Werkstatt für den Telegrafenbau in der Kirchengasse 45-46, der heutigen Apostelgasse 12. Werner von Siemens‘ Wunschkandidat für die Leitung der neuen Filiale ist sein Bruder Carl, doch da dieser – wohl nicht zuletzt aus familiären Gründen – in Russland bleiben möchte, wird der Berliner Beamte David Steinert zum Prokuristen bestimmt, dem der leitende Ingenieur August Weyrich zur Seite steht. Doch die beiden können die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Im August 1862 muss Johann Georg Halske nach Wien reisen, „um das dortige Geschäft wieder aus dem Dreck zu bringen in welchen Weyrich es geschoben hat“, wie Werner von Siemens seinen Bruder William Ende August wissen lässt. Knapp zwei Jahre später endet das Wiener Intermezzo mit der Auflösung von Büro und Werkstatt durch Johann Georg Halske, der Löschung des auf den 12. Oktober 1858 datierten Handelsregistereintrags und dem Verlust von 30.000 Talern.
Auf ein Neues – Technisches Büro in Wien gegründet
Im Sommer 1879 laufen die Vorbereitungen für einen erneuten Start des Elektrounternehmens in der rund eine Million Einwohner zählenden Donaumetropole auf Hochtouren. In wessen Hände Werner von Siemens die Geschäftsführung der neuen Dependance legen möchte, steht bereits fest:
Ich möchte nun Arnold zum Leiter dieser Filiale machen. Er ist jetzt bald 25 Jahre alt, ist solide und thätig, hat auch offenes Auge und gutes Verständniss. Ich dachte ihm ein mässiges Gehalt von 10% Tantieme vom Wiener Geschäft zu geben. Hat er sich dort einige Jahre bewährt und das Wiener Geschäft in die Höhe gebracht, so ist es Zeit ihn nach Berlin zurück zu nehmen.Werner von Siemens an seinen Bruder Carl, 21. August 1879
Am 14. Oktober 1879 trifft Werner von Siemens mit seinem ältesten Sohn in Wien ein, neun Tage später, am 23. Oktober, eröffnen sie das „Wiener Technische Büro von Siemens & Halske, Berlin“ – vorerst in der Magdalenenstraße 12, da die 15 Jahre zuvor aufgegebenen Räumlichkeiten noch nicht wieder zur Verfügung stehen.
Wenn der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig in seinen Lebenserinnerungen davon spricht, dass in der österreichischen Monarchie zum Ende des 19. Jahrhunderts „die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und Technik“ Ausweis des Fortschritts sind und „ein allgemeiner Aufstieg […] immer sichtbarer, immer geschwinder, immer vielfältiger“ werde, dann haben S&H im allgemeinen und die Wiener Zweigstelle des Unternehmens im Besonderen daran entscheidenden Anteil: „Auf den Straßen“, so Stefan Zweig, „flammten des Nachts statt der trüben Lichter elektrische Lampen, die Geschäfte trugen von den Hauptstraßen ihren verführerischen neuen Glanz bis in die Vorstädte, schon konnte dank des Telephons der Mensch zum Menschen in die Ferne sprechen, schon flog er dahin im pferdelosen Wagen mit neuen Geschwindigkeiten […]“
Vielfach bewundert – S&H auf der Internationalen Elektrischen Ausstellung 1883
Vom 16. August bis zum 31. Oktober findet in Wien die Internationale Elektrische Ausstellung statt, die aufgrund des großen Erfolgs und regen Besucheransturms schließlich bis zum 4. November verlängert wird. In der zehn Jahre zuvor für die Weltausstellung errichteten Rotunde im Prater präsentieren sich insgesamt 575 Aussteller, von denen jeder einträgliche Geschäfte erhofft, doch in aller Munde ist vor allem ein Name, wie die Presse zu berichten weiß: Siemens.
„Vielleicht der meistgenannte Name in den Tagen der elektrischen Ausstellung war der der Brüder Siemens, da hauptsächlich der ersprießlichen Thätigkeit dieser […] Männer die Elektro-Technik jenen überraschend schnellen Aufschwung verdankt, welcher die Veranlassung zu einer internationalen Exposition geworden ist. Dieser berühmte Name kehrte wohl am häufigsten in den Ausstellungsräumen wieder.“
Wiener Vorstadt-Presse, 10. November 1883
Verwunderlich war das nicht, gehörten doch zwei von S&H realisierte Starkstromprojekte zu den sowohl viel beachteten als auch ungläubig bestaunten Höhepunkten der Ausstellung. Dabei handelt es sich zum einen um die Praterbahn, die ab 28. August bis zum Ausstellungsende auf ihrer 1.500 Meter langen Strecke insgesamt 269.068 Personen befördert. Zu anderen handelt es sich um die erste elektrische öffentliche Lokalbahn der k. u. k. Monarchie, deren erstes Teilstück von Mödling bis Klausen am 22. Oktober 1883 eingeweiht wird.
Begleitet wird die Exposition unter anderem durch populärwissenschaftliche Vorträge. Den von der Wiener Presse als „würdig“ und „glänzend“ etikettierten Auftakt der Vortragsreihe am 27. August 1883 bildet William Siemens, der „Über Temperatur, Licht, Gesamtstrahlung und Bestimmung der Sonnenwärme auf elektrischem Wege“ referiert. Unter den Zuhörern ist sein Bruder Werner, der sich, so eine zeitgenössische Stimme, augenscheinlich nicht wenig daran ergötzt, seinen Bruder zum ersten Male einen Vortrag in deutscher Sprache halten zu hören. „Was Siemens da Alles mitgetheilt hat“, heißt es im Neuen Wiener Tageblatt vom 28. August 1883, „wollen wir hier nicht wiederholen […]; aber die Bescheidenheit müssen wir verzeichnen, mit welcher er schüchtern, und wo es nicht anders ging, von seinen eigenen Erfindungen sprach, und fast beschämt sprach er von dem Gasregulator, den man auch in Wien sehen kann, ‚von meinem Bruder konstruirt‘.“
Von kleinen Büros zu großen Fabrikkomplexen – Die Ära Fellinger
Gut zwei Jahre vor der Internationalen Elektrischen Ausstellung tritt der promovierte Naturwissenschaftler Richard Fellinger, der S&H seit 1877 angehört, in das Wiener Technische Büro ein. Mit der Rückkehr von Arnold von Siemens nach Berlin übernimmt er die Leitung der Filiale, die ab 1882 unter der Bezeichnung Siemens & Halske Wien firmiert. Im gleichen Jahr erfolgt die Verlegung der Büros an den schon einmal genutzten Standort Apostelgasse 12.
Der Erwerb des Nachbargrundstücks ermöglicht 1883 die Aufnahme der Fertigung in speziellen Werkstätten, aus denen schließlich das so genannte Wiener Werk hervorgeht, das neben Bogenlampen und Dynamomaschinen sowie Block- und Weichenstellungsanlagen ab 1890 auch Kabel herstellt. Die im Zuge der Elektrifizierung der Doppelmonarchie mehr als gut gefüllten Auftragsbücher einerseits und die begrenzten räumlichen und produktionstechnischen Kapazitäten andererseits erfordern schließlich eine Teilverlagerung der Fertigung nach Leopoldau, wo 1897 eine neue Kabelfabrik und 1900 eine Maschinenfabrik in Betrieb genommen werden, die die Leopoldauer Werke bilden.
Dass die Geschäfte unter der Federführung von Richard Fellinger florieren, zeigt auch der kontinuierliche Anstieg der Beschäftigtenzahlen. 1882 gehören zum Personal von S&H Wien zwölf Angestellte und 19 Arbeiter. 1890 sind im Wiener Werk 900 Arbeiter beschäftigt, sechs Jahre später sind es bereits 2.000.
Als Richard Fellinger 1885 die Direktion des Wiener Werks übernimmt, gilt die Praterbahn als sein erster großer Erfolg. Für Schlagzeilen in der Presse sorgen auch andere Projekte der Ära Fellinger. So kann dank S&H-Technik aus Wien ab 9. August 1890 der Gipfel des Salzburger Mönchsberg durch einen elektrischen Doppelaufzug erreicht werden, dessen für 12 Personen ausgelegte Fahrkabinen an Eisenbahncoupés der 1. Klasse erinnern.
Die Fahrt mit dem Aufzug gestaltet sich so ruhig, dass die Fahrgäste meinen, sich gar nicht von der Stelle zu bewegen, wenn nicht die zu ihren Füßen versinkende Stadt das Gegenteil beweisen würde. Die neue Salzburger Attraktion zieht die Massen an: Allein in der ersten Betriebswoche lassen sich 10.527 Personen befördern, in der zweiten sind es 12.730, bis zum Ende des Jahres 1891 werden es insgesamt 200.000 sein. Dass die Zahl nicht noch höher ausfällt, hängt übrigens damit zusammen, dass der Aufzug zwischen Mitte Oktober und Ende April nur an Sonn- und Feiertagen fährt.
Während sich die einen in luftige Höhe begeben, können sich die anderen ein paar Jahre später unterhalb der Straße fortbewegen lassen: Am 2. Mai 1896 nimmt in Budapest – zwei Jahre nach der Genehmigung des Projekts – die vom Wiener Werk gebaute erste elektrische Untergrundbahn der Welt den Betrieb auf. Nebenbei bemerkt: Die blau gestrichenen und gelb geränderten Wagen verfügen über zwei im oberen Bereich aus Glas bestehende Zwischenwände, so dass jeweils drei Raumbereiche vorhanden sind: ein größerer Mittelraum und zwei „Seitenabtheilungen für Nichtraucher und für Damen“.
„Ueber das neue Verkehrsmittel ist man im Publicum voll des Lobes. Die Wagen sind elegant, bequem. Die Fahrgeschwindigkeit ist beinahe doppelt so groß wie auf den im Niveau der Strassen verkehrenden elektrischen Strassenbahnen, und dabei merkt man gar nicht, dass man sich eigentlich ‚unter der Erde‘ befinde – so rein und leicht ist die Luft unten.“
Pester Lloyd, 3. Mai 1896
Während sich die ungarische Presse begeistert von der neuen technischen Errungenschaft zeigt, betonen mehrere österreichische Zeitungen unter der Überschrift „Eine mißglückte Untergrundbahn“, dass es gravierende technische Störungen gebe, die eine Verzögerung der Inbetriebnahme zur Folge habe. S&H sieht sich zu einer Gegendarstellung gezwungen: „Als Projectanten und Erbauer der Budapester Untergrundbahn ersuchen wir Sie, […] bekanntzugeben, daß Ihre Mitteilung sich als gänzlich unrichtig erwiesen hat, und dass die Untergrundbahn in Pest am Samstag, 2. Mai, dem ordnungsgemäßen Betriebe übergeben wurde und trotz des riesigen Verkehres, welchen sie von der Betriebsöffnung angefangen fortgesetzt zu bewältigen hatte, ohne irgend welchen Anstand und zur allgemeinen Zufriedenheit functioniert.“
Die Vereinigung der Starkstrom-Abteilung von S&H Wien mit den seit 1897 bestehenden Österreichischen Schuckert-Werken am 1. Januar 1904 erlebt Richard Fellinger nicht mehr, denn er verstirbt bereits im Herbst 1903 im Alter von nur 55 Jahren. Der Elektrotechnische Verein Wien würdigt den Begründern der elektrotechnischen Großindustrie Österreichs in einem Nachruf unter anderem mit folgenden Worten: „Fellinger kann nicht als Fachmann richtig gewürdigt werden, er war mehr als ein Fachmann, eine durch und durch bedeutende, von aller Einseitigkeit freie, lautere, fest gegründete Persönlichkeit, die auf jeden einen tiefen Eindruck machte.“
Kleine Bemerkung am Rande – Der Privatmann Richard Fellinger
Richard Fellinger und seine Frau Maria Regina, eine bildende Künstlerin, leben sich in Wien schnell ein und verkehren in den besten Kreisen. Bereits in seinem ersten Wiener Jahr lernt das Paar durch die Vermittlung der Pianisten Clara Schumann den Komponisten Johannes Brahms kennen, der regelmäßig im Hause der Fellingers zu Gast ist und dort einige seiner Werke uraufführt.
Die beiden Männer verbindet eine enge Freundschaft, die bis zum Tode von Johannes Brahms im Jahre 1897 anhalten wird. Der Siemens-Direktor berät den Komponisten in finanziellen Angelegenheiten und sorgt beispielsweise dafür, dass dessen Wohnung mit elektrischem Licht ausgestattet wird; der Komponist initiiert seinerseits im Januar 1891 die Gründung des Wiener Siemens-Männerchors, der – mit Unterbrechungen – bis 1972 besteht. Zum Œuvre von Maria Regina Fellinger gehören unter anderem Fotografien und eine Büste von Johannes Brahms.
Dr. Claudia Salchow