Das Stromnetz der Zukunft beginnt am Grid Edge
Die Umstellung auf erneuerbare Energie stellt die Stromversorgung vor grosse Herausforderungen. Vielversprechende Ansätze, um ihnen zu begegnen, entstehen aktuell am Grid Edge – der Schnittstelle zwischen Netz und Verbrauchern.
Jahrzehntelang funktionierte die Stromversorgung nach dem gleichen Prinzip. Grosse Kraftwerke produzieren Energie. Diese gelangt über das Netz zu den Verbrauchern. Dieses Konzept gerät in der neuen Energiewelt, in der immer mehr Strom aus erneuerbaren Quellen stammt, an seine Grenzen. Ein Grund dafür: Erneuerbarer Strom – namentlich Wind- und Sonnenenergie – wird nicht bloss in Grossanlagen produziert, sondern zunehmend dezentral, in Millionen von Klein- und Kleinstanlagen, die auf Industriegeländen, Einfamilienhausdächern oder Bauernhöfen in ländlichen Gebieten stehen.
Flexibilität muss grösser werden
Je grösser der Anteil von Wind- und Solarstrom im Strommix wird, desto stärker fluktuiert die Energieerzeugung: Zu manchen Zeiten wird (viel) mehr Strom produziert, als verbraucht wird, zu anderen Zeiten übersteigt die Nachfrage das Angebot. «Im Stromnetz müssen Erzeugung und Verbrauch jederzeit im Einklang stehen», sagt Michael Weinhold, CTO von Siemens Smart Infrastructure. Die grosse Herausforderung besteht darin, eine zunehmend fluktuierende Produktion mit dem Verbrauch, der ebenso fluktuiert, in Einklang zu bringen. Das Ziel ist ein intelligentes System, in dem Stromnetz, Erzeuger, Speicher und Verbraucher weitgehend autonom interagieren.
Mehr Speicher sind gefragt
Fest steht, dass ein solches System nicht ohne zusätzliche Kapazitäten zur Stromspeicherung auskommen wird. Auf Netzebene sind Speicher gefragt, die in Sekundenbruchteilen viel Energie abgeben oder aufnehmen können, beispielsweise Batterien. Zum anderen sind zusätzliche Langzeitspeicher erforderlich, in Ergänzung etwa zu bereits bestehenden Pumpspeicherkraftwerken. Auch Unternehmen und Private, die Strom produzieren (Prosumer) profitieren von der Möglichkeit, Strom vorzuhalten.
Die Suche nach Möglichkeiten, elektrische Energie zu speichern, geht schon seit Längerem über die Stromversorgung im engeren Sinn hinaus. Die Grundidee der Sektorenkopplung ist es, verschiedene Energiesektoren zu kombinieren – zum Beispiel den Strom- mit dem Gas- oder dem Wärmesektor. Das heisst: Überschüssiger Strom wird genutzt, um durch sogenannte Power-to-X-Verfahren beispielsweise Wärme oder Gas zu erzeugen.
Am Grid Edge, könnte man sagen, werden die Beziehungen zwischen Verbrauch, Produktion und Speicherung neu gedacht. Möglich wird das durch die Digitalisierung. Sie macht Energieflüsse transparent und das komplexe Zusammenspiel zwischen Produktions- und Verbraucherseite beherrschbar.
Lastmanagement
Ein gutes Beispiel für eine Grid-Edge-Technologie ist das intelligente Lastmanagement (Demand Side Management): Es gibt dem Netzbetreiber die Möglichkeit, Einfluss auf den Stromverbrauch zu nehmen, wenn die Nachfrage nach Strom zu hoch oder zu tief ist oder es im Stromnetz zu Engpässen kommt. Dafür bieten sich beispielsweise Heiz- und Kühlsysteme an, deren Lastprofile ohne spürbare Folgen für eine gewisse Zeit verschoben werden können.
Virtuelle Kraftwerke
Das Konzept der virtuellen Kraftwerke hat zum Ziel, dezentrale Einheiten zusammenzuschliessen, um so grössere Flexibilität zu generieren und den Teilnehmern eine gemeinsame Stromvermarktung zu ermöglichen. Verbunden werden können dabei Produktionsanlagen wie Biogas-, Windkraft-, Photovoltaik- oder Wasserkraftanlagen, aber auch Stromverbraucher, Stromspeicher und Power-to-X-Anlagen. Theoretisch könnte so jeder dezentral produzierende, speichernde oder verbrauchende Akteur als Teil eines virtuellen Kraftwerks am Strommarkt teilnehmen. In der Praxis setzen lokale regulatorische Rahmenbedingungen jedoch gewisse Grenzen.
Neue Chancen für alle Beteiligten
Intelligente Systeme, die Erzeugung, Speicherung und Verbrauch von Strom koordinieren, schaffen für alle Beteiligten neue Chancen. Sie erlauben es Prosumer und Konsumenten, die Energieeffizienz ihrer Gebäude und Industrieanlagen zu steigern und am Standort produzierte Energie optimal zu nutzen.
20.10.2020