In vertikalen Schnitten zum Erfolg

Leittechnik-Migration in einer Sonderabfallverbrennungsanlage

Bei Migrationsvorhaben stehen Anlagenbetreiber vor vielen Entscheidungen: Welches Nachfolgesystem soll eingesetzt werden? Modernisieren wir ab der Rangier- oder erst ab Interface-Ebene? Gehen wir in kompletten Anlagenstillstand? Die GSB Sonderabfall-Entsorgung Bayern GmbH hat sich diesen und vielen weiteren Fragen gestellt und durchweg richtige Entscheidung getroffen – vom Umsetzungspartner bis zur eingesetzten Technologie.

Mit ihren elf Standorten sichert die GSB für ganz Bayern die umweltgerechte Entsorgung von industriellen Abfällen. Jährlich werden ca. 380.000 t Material unter strengen Umweltrichtlinien sicher und zuverlässig verarbeitet. Die Verbrennungsanlage für Sonderabfälle in Baar-Ebenhausen bildet das Rückgrat der flächendeckenden Entsorgungsinfrastruktur. Im Jahr 1996 gingen die beiden Verbrennungslinien 2 und 3 in Betrieb, während die erste Verbrennungsanlage 1999 nach 24-jähriger Betriebszeit stillgelegt wurde. Die turnusgemäße Erneuerung der Leittechnik gab den Ausschlag für die Modernisierung der Verbrennungslinien inklusive der Nebenanlagen. Bei der Aktualisierung stand die Langzeitverfügbarkeit des neuen Leitsystems im Vordergrund. GSB wollte sich durch strategische Planung eine möglichst lange Zeitspanne für Service- und Support-Leistungen sowie die Ersatzteilversorgung sichern. Die größte Herausforderung bei der Migration bestand dabei in der Aufrechthaltung des Anlagenbetriebs, wie Betriebsleiter Wolf Reuter berichtet: „Einen Gesamtstillstand hat es im Werk Bar-Ebenhausen in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. Aus gutem Grund, denn für uns bestehen Abnahmeverpflichtungen: Einige unserer 5000 Industriekunden müssten ihre Produktion einstellen, wenn wir unsere Arbeit nicht zuverlässig aufrecht halten könnten.“ So sind die Drehrohröfen in Baar-Ebenhausen an 365 Tagen rund um die Uhr im Einsatz. Bei ca. 1200 °C verbrennen feste, flüssige und pastöse Abfälle. Nur für die jährlichen Revisionen werden die 12 m langen, fast 5 m hohen Öfen einzeln außer Betrieb gesetzt. 

Pilotprojekt sichert wichtige Erkenntnisse

Um unter diesen Bedingungen eine wasserdichte Migrationsstrategie aufstellen zu können, entschied sich die GSB im Jahr 2014 dazu, zunächst eine Teilanlage für die Leittechnik-Modernisierung auszuschreiben. Den Zuschlag für die Abgaswaschwasser-Behandlungsanlage (AGWW) erhielt die SAR Elektronic GmbH. Das Unternehmen setzt seit 1985 als General- oder Subunternehmer Automatisierungslösungen rund um den Globus um. Über 600 Mitarbeiter sorgen in sieben Geschäftsbereichen mit fundiertem Wissen und Leidenschaft für erfolgreiche Projekte bei Kunden aus der industriellen Fertigung, der Prozessindustrie und der Umwelttechnik.

 

Die AGWW besteht aus einer Reihe chemisch-physikalischer Behandlungsschritte bei der das Wasser aus den Rauchgaswäschern von Schadstoffen und Schwermetallen befreit wird. Für die Beobachtung und Steuerung der einzelnen Prozesse löste das Prozessleitsystem Simatic PCS 7 das bisherige System mit Simatic S5-Steuerungen ab. Diesem ersten Migrationsschritt misst Andreas Innerhofer, der bei GSB als Projektleiter für die Modernisierung der Prozessleittechnik zuständig ist, große Bedeutung zu: „Wir haben sehr viele wertvolle Erkenntnisse aus diesem Migrationspiloten geschöpft. Um für die Modernisierung weiterer Anlagenteile besser gerüstet zu sein, haben wir unser Anlagenkennzeichnungssystem komplett überarbeitet und unsere R&I-Fließbilder aktualisiert.“

Leistungsstarke Peripheriegeräte

Nachdem SAR auch die Ausschreibung für die weiteren Modernisierungsschritte für sich gewinnen konnte, war nun ein bereits eingespieltes Team mit der Aktualisierung der Gesamtanlage betraut. Die Strategie der Migration basierte auf den Erfahrungen des Piloten: „Wir haben uns zu vertikalen Schnitten entschlossen. Das heißt, wir wollten Anlagenteil für Anlagenteil komplett aufs neue System ziehen“, so Innerhofer und führt aus: „Das bedeutet, dass wir in der Übergangszeit zwei Leitsysteme parallel einsetzen. Ein horizontaler Schnitt, also mit dem neuen Leitsystem die gesamte Anlage zu visualisieren aber die Automatisierungsebene zunächst zu belassen, kam für uns nicht infrage. Wir wollten durchgängig von der neuen Technik profitieren.“ So setzte die Migrationsstrategie unterhalb der Automatisierungsebene an: In den Rangierverteilern wurden die bisherigen Termi-Point-Pfosten gegen Push-in-Klemmen ersetzt und die neuen Leittechnikschränke angeschlossen, in denen heute eine ganz neu entwickelte Peripherie-Linie von Siemens ihre Dienste verrichtet: Simatic ET 200SP HA. Basierend auf dem Erfolg der ET 200-Produktfamilie wurde das neue I/O-System nach höchsten Ökonomiegesichtspunkten konzipiert und erfüllt höchste Ansprüche in Bezug auf die Verfügbarkeit. Durch eine flexible – sowohl vertikale als auch horizontale Installation kann eine sehr hohe Kanaldichte im Schaltschrank erreicht werden, was de facto bedeutet, dass mehr Leistung auf bestehender Fläche möglich ist. 

Die neue Übersichtlichkeit

Sowohl für SAR als auch für GSB erschlossen sich durch die neue Hardware vielfältige Vorteile. „Durch die Einzelversorgung der Eingänge sind keine Potenzialverteilungen nötig und sämtliche Eingänge können direkt auf den Klemmen verdrahtet und mit 24 Volt versorgt werden“, erläutert Manfred Prokosch, der als technischer Projektleiter seitens SAR für das Projekt verantwortlich ist. „Außerdem konnten wir die Schränke standardisiert nach wiederkehrendem Layout aufbauen.“ Innerhofer bestätigt das aus Anwendersicht: „Wir bekommen nun eine einheitliche Rangierebene: Zwei Adern gehen pro Geber ins Feld, es gibt keine extra Stromversorgung, keine zusätzlichen Sicherungen oder Ähnliches. Das ist sehr einfach, übersichtlich und extrem diagnosefreundlich.“ Die Anzahl der Schränke hat sich drastisch reduziert. „Auch das gehört zu den Vorteilen unserer Strategie der vertikalen Schnitte“, erklärt Innerhofer. „Wir konnten die Aufteilung unserer Anlagenteile neu konzipieren, Kabelwege optimieren und somit enorm an Übersichtlichkeit gewinnen.“

Bestens bewährt: das neue Leitsystem  

Neben topaktueller Hardware setzt GSB auch auf moderne Leitsystem-Software. Die Rauchgasreinigung ist der erste Abschnitt, der nun auf der aktuellen Version von Simatic PCS 7 läuft. Die ersten Monate haben gezeigt, dass die neuen Möglichkeiten eines fortschrittlichen Leitsystems die Denk- und Arbeitsweise der Operatoren verändert: „Die umfangreiche und intuitiv bedienbare Kurven- und Trenddarstellung im neuen System führte ganz schnell dazu, dass die meisten Kollegen mittlerweile über Trendbeobachtung fahren“, berichtet Marco Düsedau, Schichtleiter in Baar-Ebenhausen. „Dadurch lässt sich viel früher ablesen, was als Nächstes passieren wird. Richtig begeistert sind die Kollegen von der Tatsache, dass sie sich bei Störungen Schritt für Schritt zum Verursacher klicken können. Heute wird mir ganz klar angezeigt, dass zum Beispiel ein Füllstand zu niedrig ist und daher ein bestimmter Prozess nicht gestartet werden kann. Früher konnten solche Ursachen oft nur durch Rücksprache mit der Feldmannschaft aufgeklärt werden“, so Düsedau weiter.

Auf Augenhöhe

Das gesamte Migrationsprojekt wird im Jahr 2021 abgeschlossen werden. Bislang sind alle Beteiligten von der Zusammenarbeit und dem bisher Erreichten hochzufrieden. „Was wir neben den umfangreichen Verbesserungen durch die neue Siemens-Technik besonders schätzen, ist die Tatsache, dass die Spezialisten von SAR nicht einfach nur Programmierer sind“, so Betriebsleiter Reuter. „Vielmehr sind die Mitarbeiter hier bei uns vor Ort auf der Baustelle oder in der Leitwarte und verfügen über sehr viel verfahrenstechnisches Know-how.“ Kollege Innerhofer ergänzt: „Schon an der Art der Fragen erkennt man, dass hier wirklich Verständnis für unsere täglichen Herausforderungen herrscht. Das führt dazu, dass die neue Leittechnik nicht einfach nur funktioniert, sondern nachhaltig zur Verbesserung unserer Arbeit beiträgt.“ Damit ist der Kerngedanke der Modernisierung optimal umgesetzt, wie auch Dr. Dominik Deinzer, Geschäftsführer der GSB zum Ausdruck bringt: „Gerade in Zeiten von Hochkonjunktur zeigt sich, welchen wertvollen Beitrag wir mit unseren Anlagen für eine Industrienation wie Deutschland leisten. Damit wir unseren Aufgaben bestmöglich nachkommen können, setzen wir erstens auf unsere Mitarbeiter mit ihrem Engagement und ihren Ideen, zweitens auf kompetente Partner und drittens auf hochmoderne und zuverlässige Systeme zur Prozessüberwachung und -steuerung.“

simatic compact field unit

Bewährte Performance mit dem Distributed Control System SIMATIC PCS 7

Mehr Flexibilität, Skalierbarkeit, Verfügbarkeit und Sicherheit in der Prozessautomatisierung.