Mit weniger Bits zu mehr Erkenntnissen

Digitale Fabriken produzieren enorme Datenmengen. Ihre Geräte sind Teil des industriellen IoT. Diese Daten werden von intelligenten Maschinen und Sensoren am Ort der Entstehung erfasst – und sie werden laufend in Echtzeit erzeugt. Einige der Sensoren liefern jede Sekunde zehntausend Messwerte. Es gibt einen guten Grund, weshalb immer mehr Geräte miteinander verbunden werden: Daten sind wertvoll. Denn wer Entscheidungen in Echtzeit treffen will, muss in der Lage sein, aus großen Datenmengen die richtigen Schlüsse zu ziehen. „Würde man alle großen Datenmengen aus digitalen Fabriken in die Cloud oder Edge-Geräte bringen, um sie dort zu analysieren und in smarte Daten zu verwandeln, bräuchte man sehr viel Bandbreite zwischen Sensoren oder Maschinen und den Edge- und Cloud-Geräten“, sagt Juan Aparicio Ojea, Leiter der Forschungsgruppe Advanced Manufacturing Automation von Siemens Technology in Berkeley, Kalifornien. „Außerdem sind irgendwann die Rechenkapazitäten ausgereizt. Und irgendwann wird auch die Speicherung der Daten zu einem Wirtschaftsfaktor und zu einer Herausforderung für diese Branchen, besonders wenn sie in Embedded Devices gespeichert werden und dort schnell abrufbar sein müssen“, beschreibt er die Gemengelage.

Der Frage, wie sich diese Dilemmata lösen ließen, sind Siemens und die amerikanische Universität Stanford in einem Open-Innovation-Projekt nachgegangen. Neben Juan Aparicio gehörten dem Team zwei weitere Kollegen von Siemens Technology an: Chengtao Wen, Forscher, und Lingyun (Max) Wang, Forschungsgruppenleiter bei Siemens Technology in Princeton, New Jersey. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Zukunft der Automatisierung. Zum Stanford-Team gehören Tsachy Weissman, Professor für Elektrotechnik mit Forschungsschwerpunkt Datenkompression, und zwei seiner Studenten, Shubham Chandak und Kedar Shriram Tatwawadi. Die Teams haben gemeinsam einen Algorithmus entwickelt, der die Datenredundanzen von Big Data nutzt, um sie zu komprimieren. Dies reduziert die Kosten für Bandbreite und Speicherung erheblich und verbessert zudem die Umweltbilanz. Für diesen Erfolg werden die Wissenschaftler als Erfinder des Jahres 2020 in der Kategorie Open Innovation ausgezeichnet. 

„Wir haben unseren Algorithmus mit einer Vielzahl von Datensätzen aus ganz unterschiedlichen industriellen Prozessen getestet, zum Beispiel Bewegungssteuerung, Temperatur, Vibration, Energieverbrauch und mehr“, erzählt Juan Aparicio. „Mit unseren Algorithmen haben wir Einsparungen von durchschnittlich 30 Prozent erzielt. Unsere Algorithmen sind somit deutlich leistungsfähiger als bisher bekannte. Wir haben gezeigt, dass bei der Verwaltung und Verarbeitung von IoT-Daten erhebliche Kosteneinsparungen möglich sind.“ ​

Sein Team ist darauf spezialisiert, eine Brücke zwischen Industrie und Wissenschaft zu schlagen. „Unser Ziel ist es, mit einer Kombination aus Automatisierung, Digitalisierung und KI intelligente autonome Industriemaschinen zu entwickeln.“ Was den Ansatz der Siemensforscher mit jenem von Tsachy Weissman von der Universität Stanford verbindet, ist das Komprimieren von sogenannten Zeitreihendaten in Echtzeit. „Bei der Kompression geht es darum, Daten effektiv und prägnant darzustellen“, erläutert Weissman. „Jeder von uns kennt das von seinem Computer. Dort liegen Daten in verschiedenen Formaten vor. Beim Bildformat JPG sind die Dateien für die Bilddarstellung zum Beispiel relativ klein. Wenn JPG-Dateien geöffnet und gelesen werden, wird das Originalbild aus der komprimierten Version rekonstruiert. Dabei gibt es gewisse Verluste.“ Man verliere jedoch nur Informationen, die den Menschen meistens ohnehin nicht wichtig sind. Dadurch seien die Dateienmengen deutlich kleiner. Die vom Open-Innovation-Team entwickelten Algorithmen tun genau das: Sie stellen Daten in Bits dar und rekonstruieren diese wieder aus Bits – bei vernachlässigbaren Verlusten. 

„In Stanford befassen wir uns mit solchen Fragen auf theoretischer Ebene“, sagt Weissman. „Manchmal führt dies zur Entwicklung konkreter Algorithmen, die mit allen möglichen Datentypen arbeiten können. Das Tolle an der Arbeit mit Juan, Chengtao und Max war, dass wir auf Basis echter Sensordaten von Siemens entwickelt haben.“ 

Beide Seiten betonen die besondere Atmosphäre der Zusammenarbeit: „Wir haben im wahrsten Sinne des Wortes Seite an Seite gearbeitet, bevor die Pandemie kam – und in den Monaten danach, als wir uns nur noch online treffen konnten, haben wir einfach an dieser Arbeitsweise mit den kontinuierlichen Feedback-Schleifen festgehalten“, erinnert sich Juan Aparicio. Das Ergebnis ihrer gemeinsamen Forschungsarbeit ist ein Ansatz, der traditionelle Kompressionsmethoden mit Deep-Learning-Techniken kombiniert. Die enormen Redundanzen in generischen Zeitreihendaten dienten ihnen dabei als Hebel. Der neue Algorithmus hat laut Aparicio viele Vorteile. Er reduziert nicht nur den Bedarf an Bandbreite und Speicherkapazität. „Die Datenkompression verkleinert auch den ökologischen Fußabdruck der Speicherinfrastruktur und kann sogar einen wertvollen Vorteil bei der Cybersicherheit der Daten bieten: Denn wenn man weniger Daten überträgt, wird es für Hacker schwieriger, die Signale zu belauschen.“