GPS für Herzoperationen

Unser Herz schlägt. Es pumpt Sauerstoff in den Körper. Die vier Kammern des Herzens arbeiten exakt aufeinander abgestimmt und passen die Pumpfrequenz an die Anforderungen des Körpers an. Geraten die Herzkammern aus dem Rhythmus, kommt es zu Problemen. „Das Herz ist ein sehr effizienter und anpassungsfähiger Muskel“, erklärt Tommaso Mansi. „Es versucht, Anomalien auszugleichen, zum Beispiel, indem es abnormal wächst. Dies ist nicht gesund.“ Mansi leitet die Forschungsgruppe Image-Guided Therapy and Robotics (Bildgeführte Therapie und Robotik) bei Siemens Healthineers. Das Team entwickelt Technologien der nächsten Generation, um die Ziele der Präzisionsmedizin zu unterstützen – also der richtigen Behandlung für den richtigen Patienten zur richtigen Zeit. 

Eines der vielen Themen, mit denen sich die Forscher beschäftigen, ist die personalisierte Planung von Herztherapien, und hier haben sie sich insbesondere auf die Verbesserung der kardialen Resynchronisationstherapie oder kurz CRT (von Cardiac Resynchronization Therapy) spezialisiert. Das Prinzip der CRT ist es, das Herz durch elektrische Impulse wieder in den richtigen Rhythmus zu bringen. Dazu werden stimulierende Elektroden auf dem Herzmuskel platziert. Ein mit diesen Elektroden verbundener Schrittmacher wird ebenfalls implantiert und so programmiert, dass er elektrische Impulse in bestimmter Frequenz an das Herz schickt, um den Herzschlag in einen normalen Rhythmus zu bringen.

Mansi und seine Forschungsgruppe bei Siemens Healthineers haben erfolgreich einen digitalen Zwilling des Herzens entwickelt, also ein Rechenmodell, das das Herz eines Patienten am Computer zeigt. Ärzte sollen sich künftig gestützt auf die prädiktive Führung durch den digitalen Zwilling während eines Eingriffs in Echtzeit von diesem Modell leiten lassen. „Der Operateur könnte den Digital Twin wie ein GPS nutzen, um die Elektroden für den Patienten optimal zu platzieren und den Schrittmacher entsprechend zu programmieren“, erläutert Mansi. „Die Platzierung der Elektroden ist überaus wichtig für den Erfolg der Therapie. Viele verschiedene Variablen haben Einfluss darauf, welcher Ort perfekt ist“. Einige dieser Variablen können sich sogar während der Operation ändern, wie Mansi anfügt. Der Technologieprototyp des Teams hat den wichtigen Vorteil, dass sich der digitale Zwilling in Echtzeit – also auch während eines Eingriffs – aktualisieren lässt, um alle verfügbaren Daten zu berücksichtigen. Die Darstellung des Herzens bleibt so stets aktuell: „Der digitale Zwilling gibt damit die physiologischen Gegebenheiten beim Patienten immer präzise wider, auch wenn sich diese mit der Zeit ändern.“ Tommaso Mansi wurde für diesen bahnbrechenden Beitrag zur Präzisionsmedizin als Erfinder des Jahres 2020 in der Kategorie Talente ausgezeichnet. Er hält 77 Patente in 160 Patentfamilien. 

„Eine derart disruptive Innovation lässt sich nur mit einem Team leidenschaftlicher Kollegen erreichen, die sehr erfahren in ihren Fachgebieten sind und gleichzeitig offen für bereichsübergreifende Forschung“, stellt Mansi klar. „Wir haben in unserem Team Kapazitäten aus Mathematik und Physik ebenso wie Experten in medizinischer Bildgebung, computergestützter Modellierung, Datenfusion, Robotik und natürlich aus der Medizin.“ Sie konzentrieren sich auf die Entwicklung von Technologien, die minimal-invasive Eingriffe unterstützen, von der Planung über die Führung bis hin zur Überwachung, und zwar in verschiedenen Fachgebieten. Mansi unterstreicht, wie stolz er auf die Teamkultur der Gruppe ist. Dies macht die Zusammenarbeit für ihn zu einer Freude: „Wir vertrauen einander völlig. So können wir uns auch gegenseitig herausfordern und auf dieser Grundlage wachsen.“ Kommt ein Teammitglied auf eine neue Idee, werden zuerst die Kardinalfragen geklärt: „Welches klinische Problem würde dies lösen? Würde dies dem Arzt helfen?“

Patienten für die CRT werden nach überaus sorgfältig entwickelten klinischen Richtlinien ausgewählt. Trotzdem sprechen rund 30 Prozent der behandelten Personen nicht auf die Therapie an: Ihre Herzfunktion verbessert sich so wenig wie ihre Lebensqualität. Mansi und sein Team nahmen diese Fakten als Herausforderung: „Wir haben uns gefragt: Können wir ein Werkzeug entwickeln, das die Genauigkeit der elektrischen Impulse verbessert, die wir an das Herz eines ganz bestimmten Patienten senden? Und können wir damit auch die Chance verbessern, dass ein Patient auf die Therapie anspricht?“

Das Team verwirklicht gerade beides. Sein digitaler Zwilling verbindet unter anderem Patientendaten aus der medizinischen Bildgebung, Informationen zum Blutdruck und EKG-Daten. „Wir integrieren Daten aus vielen verschiedenen Quellen, um das Herz eines Patienten digital abzubilden“, erklärt Mansi. Die Interaktion mit dem digitalen Zwilling und die virtuelle Erprobung verschiedener Therapieoptionen können dann zur präziseren Planung von Herztherapien beitragen. „Wir wollen die Qualität der Behandlung erhöhen und eventuell auch die Behandlungskosten senken, indem wir zum Beispiel effektivere Therapien erleichtern und gleichzeitig unnötige Behandlungen vermeiden.“