Bremsen, um zu beschleunigen

Gesund oder krank? Diese Frage beantwortet oft die In-vitro-Diagnostik. Moderne Labore verarbeiten Patientenproben von vielen verschiedenen Einrichtungen mit jeweils eigenen Standards für Behälter und Etikettierung. Sie setzen auf Automatisierung, um mit der großen Vielfalt angelieferter Proben zurechtzukommen. 

Benjamin Pollack und sein Team bei Siemens Healthineers optimieren diese automatisierten Abläufe. Künstliche Intelligenz und Deep Learning helfen ihnen, die Fehlerrate bei der automatisierten In-vitro-Diagnostik stark zu verringern. Zudem hat Pollack dazu beigetragen, dass Atellica den sicheren Transport der Röhrchen noch beschleunigen kann. Sie werden jetzt bis zu zehn Mal schneller befördert, so dass die Ergebnisse der In-vitro-Diagnostik früher bekannt sind. Pollacks Erfindungen haben einen wichtigen Beitrag zur Atellica-Lösung von Siemens Healthineers geleistet und ihm die Auszeichnung als Erfinder des Jahres 2020 in der Kategorie Talente eingebracht. Pollack hält 58 Patente in 77 Patentfamilien.

„Die Röhrchen mit den Patientenproben werden vom Laborpersonal in das System geladen“, erläutert Pollack. „Und wo Menschen tätig sind, gibt es immer gewisse Schwankungen.“ So könne es vorkommen, dass Röhrchen sich zur Seite neigten, weil sie nicht vollständig in den Träger eingedrückt wurden. Manchmal seien Proben auch nicht identifizierbar, weil die Barcode-Etiketten falsch aufgeklebt wurden. „Unser Ziel war es, solche seltenen Fehler zu erkennen und so früh im Prozess auszusondern, dass sich der Workflow insgesamt auf sichere Weise beschleunigen lässt.“ Pollack betont, dass „wir leider nicht den Luxus haben, einfach auf ‚Aktualisieren‘ zu klicken, wenn ein Fehler passiert. Ein Fehler könnte bedeuten, dass die Blutabnahme bei einem Kind wiederholt werden muss, oder dass sich eine wichtige medizinische Entscheidung in der Notaufnahme verzögert. Wir alle im Diagnostikgeschäft wissen genau, dass schnellere und zuverlässigere Arbeit der Labore nicht nur deren Gewinne steigern, sondern tatsächlich Leben retten kann.“  

Pollacks Team hat seine Erfindungen in den Demo Labs von Siemens Healthineers in Flandern und Princeton im US-Bundesstaat New Jersey entwickelt. Die Forscher verfügen in ihrem Labor über die jüngste Generation ihrer erfolgreichen Technologie, der Atellica Solution. Jeder Atellica Sample Handler ist dabei mit elf verschiedenen Kameras ausgerüstet, die jede einzelne Probe KI-gestützt charakterisiert, sobald sie in das System geladen wird. So lässt sich dynamisch anpassen, wie der Röhrchen-Transferroboter und das Magline-Transportsystem jeden Behälter behandeln. Wie Pollack erklärt, wurde Atellica nicht nur auf höhere Effizienz ausgelegt. Das System soll auch als Plattform für künftige Innovationen dienen, die für neue und zukünftige Anforderungen der Branche entwickelt werden: „Covid-19 hat gezeigt, wie schnell sich die Erfordernisse in der In-vitro-Diagnostik ändern können und wie entscheidend es ist, dass wir uns an diese Herausforderungen anpassen und sie bewältigen können.“

KI ermöglichte es dem Team jetzt, Unterschiede bei den Probenröhrchen besser zu erfassen. Hier zeigte sich allerdings, dass „auch eine neue Transporttechnik notwendig war, um dieses Wissen in eine schnellere Verarbeitung umzusetzen“. Die sogenannten Magline-Träger haben einen Magnetboden, und in die gesamte Oberfläche, über die sie fahren, sind Hunderte elektromagnetische Spulen eingebettet. Jede Spule lässt sich separat steuern, so dass jeder Probenträger unabhängig gelenkt werden kann. „Im Prinzip fährt jedes Röhrchen in seinem eigenen Privattaxi“, veranschaulicht Pollack. Trete ein Fehler auf und müsse ein Träger einen unerwarteten Halt einlegen, könne er irgendwo auf der Magline allmählich abgebremst werden. Alle Träger dahinter verlangsamten ihre Fahrt dann ebenfalls, ganz so wie Autos im Straßenverkehr. „Ironischerweise konnten wir dank dieser Möglichkeit, einen einzelnen Träger abzubremsen, das Probenmanagementsystem insgesamt beschleunigen“, freut sich Pollack. „Die Bremsoption ermöglicht sicheres Beschleunigen, so dass Röhrchen auf der Magline bis zu zehn Mal schneller transportiert werden können als bei einer herkömmlichen Anlage.“ 

Pollack beschreibt Innovation als einen iterativen Prozess, „vor allem in einem sicherheitskritischen Bereich wie dem unseren“. Das erste Gebot lautet: „Keinen Schaden anrichten.“ Seine persönliche Philosophie ist es, ambitioniert zu entwickeln, aber konservativ umzusetzen. „Es gehört gewisse Bescheidenheit dazu, ein Team von Experten zusammenzustellen, die dann jede unserer Ideen infrage stellen und neue Perspektiven einbringen, auf die wir selber nicht gekommen wären. Wir können dies tun, indem wir uns die Fähigkeiten unserer Siemens-Kollegen auf der ganzen Welt zunutze machen.“ Misserfolge gehören für Pollack zum Prozess der Innovation: „Wenn eine Idee nicht scheitert, kann dies manchmal durchaus heißen, dass das zu lösende Problem nicht schwierig genug war. Die wirkliche Gefahr besteht darin, dass ein Team es nicht wagt, eine schlechte Idee im Umsetzungsstadium zu stoppen. Eigenverantwortung und Vertrauen sind wesentlich.“ 

Auf die gleiche Offenheit setzt Benjamin Pollack auch im Privatleben. So hat er an der Hochschule Ingenieurwissenschaft und Geisteswissenschaften nebeneinander studiert. „Mit engen Freunden aus den verschiedensten Bereichen habe ich gelernt, die Einsichten zu schätzen, die sich aus besonderen Sichtweisen ergeben. Jeder setzt aus denselben Fakten eine andere Geschichte zusammen.“