Ein Dirigent fürs Stromnetz

Vier weiße Container auf einer grünen Wiese im Allgäu, direkt angrenzend an ein Dorf, das ein Vorreiter bei der Integration erneuerbarer Energien in das Stromnetz ist: In Wildpoldsried begann vor zehn Jahren die Geschichte von Joachim Bamberger und Ulrich Münz. Gemeinsam mit internen und externen Partnern entwickelten sie eine Software, die Netze mit einem Anteil von 100 Prozent erneuerbarer Energien automatisch stabilisiert. Ausgehend von diesem ersten kleinen Inselnetz haben Joachim und Ulrich die Innovation für größere Inselnetze vorangetrieben, indem sie die Anzahl der Wechselrichter ständig erhöht haben. Die beiden Pioniere werden als Siemens „Erfinder des Jahres 2021" in der Kategorie „Outstanding Invention“, also herausragende Erfindung, ausgezeichnet. 

„Wenn wir als Gesellschaft unsere Klimaziele erreichen wollen, müssen wir den Anteil der erneuerbaren Energien in unseren Energiesystemen erhöhen", sagt Joachim Bamberger. Er arbeitet heute als Portfoliomanager für Digital Services bei Siemens Smart Infrastructure. An einem strahlenden Tag Anfang Oktober 2021 steht er auf einer Wiese bei Wildpoldsried. Die Kulisse hinter ihm ist perfekt für eine solche Aussage. Hinter Bambergers Rücken reihen sich die Häuser des Allgäuer Dorfes auf. Fast alle Dächer sind mit Photovoltaikanlagen bestückt. Auf den hügeligen Feldern, die das Dorf umgeben, halten Windräder ihre Flügel in den Wind - und ganz hinten ziert die Silhouette von Berggipfeln den Horizont. 

„Ein steigender Anteil erneuerbarer Energien und das Ziel, eines Tages 100 Prozent Erneuerbare einzuspeisen, ist eine Herausforderung für die Netzbetreiber", erklärt der Experte. „Die Herausforderung, vor der sie stehen, ist: Wie können sie Schwankungen auffangen und Ausfälle vermeiden, auch bei extremen Wetterlagen?" Der Weg, den die Siemens-Erfinder damals wählten, bestand darin, zunächst Lösungen für kleine Stromversorgungssysteme zu entwickeln und zu validieren – und diese dann auf große Systeme zu übertragen. 

„Was in Wildpoldsried begann, entwickelte sich zum ersten Microgrid-Projekt von Siemens mit 100 Prozent erneuerbarer Stromerzeugung auf den Galapagos-Inseln", erklärt Ulrich Münz. Er arbeitet heute in Princeton, USA, als Principal Key Expert for Control Systems und Head of Autonomous Systems & Control bei Siemens Technology. Die größte Herausforderung auf den Galapagos-Inseln sei es gewesen, die vielen erneuerbaren Quellen so zu koordinieren, dass sie gemeinsam Spannung und Frequenz regeln und Stromausfälle vermeiden. 

“Wir sind diese Herausforderung mit Simulation, Labortests und den Erkenntnissen aus unseren Feldtests im Allgäu angegangen”, sagt Münz. So hätten sie verstanden, wie sie ein belastbares Mikronetz mit 100 Prozent erneuerbaren Energielieferanten aufbauen können und dieses für größere Stromversorgungssysteme mit Tausenden von leistungselektronischen Umrichtern skalieren.

Die leistungselektronischen Umrichter sind dabei der Schlüssel zu allem, da Windturbinen, Solarkraftwerke und Batterien sie benötigen, um Strom in das Netz einzuspeisen. Mit dem Übergang von der konventionellen zur erneuerbaren Stromerzeugung steigt laut Münz die Zahl der leistungselektronischen Wandler in den Stromsystemen drastisch an. Daher hätten sie verstehen müssen, wie sie eine sehr große Anzahl von leistungselektronischen Umrichtern koordinieren können, damit es nicht zu Schwankungen oder Ausfällen kommt. „Diese Orchestrierung wird durch einen leistungsstarken Optimierungsalgorithmus erreicht, der Tausende von Reglerparametern in Hunderten von Generatoren abstimmt.“

Die Software gebe den Netzbetreibern Empfehlungen, wie sie die Integration erneuerbarer Energien maximieren und gleichzeitig die Stromversorgung aufrechterhalten können. Joachim Bamberger vergleicht diesen Service für Netzbetreiber mit einem elektronischen Stabilisierungsprogramm (ESP) für Autos: „Mit einem höheren Anteil an erneuerbaren Energien wird das Energiesystem etwas wackelig. Unsere Software unterstützt innerhalb von Millisekunden die Entscheidung, wo und wie stark gebremst werden muss. "

Bei ihren aktuellen Forschungen erhöhen sie die Anzahl der Umrichter kontinuierlich. „Hier in unserem Labor in Princeton führen wir Experimente mit mehr als 20 Umrichtern und Simulationen von Hawaii mit mehr als 100 Umrichtern durch", erklärt Ulrich Münz. 

Zudem integrieren sie ihr Software-Tool in eine virtuelle Betriebsumgebung von Hawaii mit 100 Prozent erneuerbarer Stromerzeugung. Dies soll laut Münz zu einer Blaupause für noch größere Stromsysteme auf der ganzen Welt werden, „um sicherzustellen, dass die Lichter anbleiben, während wir unsere Stromsysteme nachhaltiger machen”.