Kleine Kristalle - Große Wirkung

Die Stäbchen, die dazu beigetragen haben, die Welt der diagnostischen Bildgebung zu verändern, sind 20 Millimeter lang, 3,2 Millimeter dick und haben vier Kanten. Sie reflektieren das Licht, und wenn man sie dreht, funkeln sie fast wie Diamanten. Mark Andreaco hält eines dieser kleinen Wunderwerke zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Man nennt sie Szintillator-Kristallpixel.

„In Rockford haben wir drei Anlagen, in denen wir Detektorforschung und -entwicklung, Detektorbetrieb und die Züchtung von Kristallmaterial durchführen", erklärt Mark Andreaco, während er Gäste durch diese Anlagen in Tennessee, USA, führt. Als Vizepräsident des Siemens Healthineers Molecular Imaging Detector Center ist er für die Anlagen verantwortlich. Darüber hinaus ist er Mitglied des Siemens Molecular Imaging Executive Team. Die Patente, die er hält, und die Innovationen, die er zusammen mit seinen Teams über zwei Jahrzehnte hinweg auf den Weg gebracht hat, waren ausschlaggebend dafür, dass er von Siemens als „Erfinder des Jahres 2021" in der Kategorie „Lebenswerk" ausgezeichnet wurde.

Die in den Werken in Rockford hergestellten Detektoren sind wichtige Komponenten, die zum Erfolg der Biograph Vision-Systeme von Siemens Healthineers beitragen. Die Biograph Vision-Systeme ermöglichen höchste Präzision in der diagnostischen Bildgebung: Ganzkörperscans können mit erstaunlicher Sensitivität durchgeführt werden. „Die Details, die man sehen kann, die Sensitivität und die Darstellung der Tumore – es ist wirklich ein fantastisches Gerät, das seinesgleichen sucht", sagt Andreaco. 

Die berufliche Laufbahn des Erfinders ist eine Geschichte, die von der Überwindung von Hindernissen geprägt war, wie beispielsweise der Umgang mit exponentiell ansteigenden Weltmarktpreisen für Rohstoffe. Und Mark Andreacos Geschichte ist eine Geschichte von Technologien, die erfunden wurden, weil es auf dem Markt keine kommerziellen Lösungen für jene Probleme gab, vor denen Andreaco und seine Leute standen. „Wenn man Technologien entwickelt, steht man immer wieder vor Problemen, mit denen man keine Erfahrung hat", antwortet Mark auf die Frage was ihn in seinem Berufsleben antreibt. Für ihn entstehen Innovationen zwischen gleichgesinnten Menschen und mit einem starken Unternehmen im Rücken, das an die Ideen seiner Forscher glaubt. „Wir hatten schon immer sehr kreative und vielfältige Teams, und wir hatten den Rückhalt des Konzerns. Wir empfinden alle eine große Eigenverantwortung, und wir wollten die Probleme, die außerhalb unseres Erfahrungsbereichs lagen, lösen. Das ist uns gelungen."

Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, war beispielsweise erforderlich, als der Weltmarktpreis für den Rohstoff Lutetiumoxid so hoch war, dass sich die Herstellung wirtschaftlich nicht lohnte. „Das Problem war die Verfügbarkeit des Rohstoffs", erklärt Andreaco. „Lutetiumoxid ist eine der 15 seltenen Erden. Es ist die letzte und seltenste der seltenen Erden. Zum Zeitpunkt der Entdeckung von LSO:Ce durch Charles Melcher waren weltweit nur 100 Kilogramm Lutetiumoxid im Handel erhältlich. Selbst unter den besten Umständen hätten wir kein einziges Gerät aus dem weltweiten Angebot an Lutetium bauen können. Der Grund dafür war: Weltweit gab es keine industrielle Nachfrage." 

In Rockford hingegen gab es eine Nachfrage. Denn die LSO:Ce-Szintillatorkristallpixel sind das Herzstück der Biograph Vision-Systeme. „Die Szintillatorkristalle wandeln die Strahlung des injizierten PET-Tracers, die aus dem Körper eines Patienten austritt, in Licht einer bestimmten Wellenlänge um. Dieses Licht wird von einem optischen Sensor erfasst und in ein elektrisches Signal umgewandelt, das anschließend zu einem rekonstruierten Bild verarbeitet wird", erklärt Andreaco. Die mit Cerium dotierten Lutetium-Oxyorthosilikat-Szintillationskristalle werden in Rockford Hochtemperaturöfen bei einer Temperatur von etwa 2150 Grad Celsius gezüchtet.

Um die Versorgung mit Lutetiumoxid zu verbessern, erklärt Andreaco weiter, „müsste man die Menge der 14 vorangehenden seltenen Erden durch Anreicherung erhöhen – als Nebenprodukt des Anreicherungsprozesses von Lutetiumoxid.  Auf diese Weise erhöht man den Bestand dieser 14 seltenen Erden. Und das muss halt jemand bezahlen." Zu dieser Zeit lag der Preis zwischen 4.000 und 15.000 US-Dollar pro Kilogramm. Bei diesen Preisen war es kommerziell nicht rentabel. Einer der Gründer von CTI - dem Unternehmen, für das Mark damals arbeitete und das später von Siemens Healthineers übernommen wurde - unternahm eine Reise nach China. Er brachte zehn Tonnen zweiprozentig angereicherter Seltenerdoxide mit und sagte zu Mark: „Veredele das, finde heraus, wie man das anreichern kann.“ Andreaco und seine Kollegen entwickelten eine Pilotanlage im Labormaßstab. „Das dort gewonnene Wissen nutzten wir, um mit einer kommerziellen Raffinerie einen langfristigen Liefervertrag abzuschließen, der unseren Preis- und Mengenanforderungen entsprach."

Ein weiteres Problem lösen, war auch das, was Mark Andreaco bezweckte, als er einen Geschäftsplan entwarf, um Szintillatorkristalle in den eigenen Anlagen in Rockford zu züchten. Laut Mark waren Szintillatoren auf Lutetiumbasis vor der Gründung des Werks in Rockford auf dem medizinischen Markt nicht erhältlich. „Was Siemens meiner Meinung nach auszeichnet", sagt Mark, „ist eine Unternehmenskultur, die es Menschen ermöglicht, disruptive Technologien zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Wir hatten die Rückendeckung, die notwendig war, um einen Geschäftsplan zu entwickeln, die Patentrechte zu erwerben, die Finanzierung, die technischen Ressourcen und die Ausrüstung für den Bau der Anlagen bereitzustellen und nicht zuletzt Teams zu bilden, die kreativ sind und eigenverantwortlich arbeiten."  

Keiner von ihnen habe Erfahrung mit dem Bau einer Hochtemperatur-Kristallzuchtanlage gehabt oder mit dem Aufbau eines Montagebetriebs für die Herstellung großer Mengen von Szintillatoren und Detektoren. Dennoch konnten sie ohne zusätzlichen Kapitalaufwand das Volumen der Szintillatoren steigern – da sie innovative Ideen entwickelten, die das ermöglichten. „Wenn ich über meine Karriere nachdenke, dann gibt es einen roten Faden, der sich hindurchzieht: Alle Innovationen haben sich daraus ergeben, dass wir ein Problem lösen mussten, für das es keine kommerzielle Lösung gab", sagt Mark Andreaco über sein Lebenswerk. „Oftmals entpuppten sich Problemlösungen dann sogar als ein neues Geschäftsmodell. "