Die so genannte additive Fertigung gibt es seit den 80er-Jahren. Ursprünglich wurden dafür nur Kunststoffe verwendet. Sie waren das Mittel der Wahl, um Prototypen von Teilen herzustellen, die später von klassischen Stanz- oder Spritzgießmaschinen ebenso wie von Fräs- oder Drehmaschinen in Masse produziert werden sollten.
Die additive Fertigung von heute ist mit dem 3D-Druck von vor wenigen Jahren in punkto Möglichkeiten kaum mehr zu vergleichen. Kontinuierlich treibt sie in der Industrie die Entwicklung und Herstellung von Hightech-Bauteilen voran. Komplementär zum Gießen oder Fräsen ermöglicht die additive Fertigung, innovative, komplexe Komponenten für anspruchsvolle Umgebungen aus Metall, Polymeren oder Keramik zu erzeugen – und zwar meist mit einer besseren Leistung als bei konventionell hergestellten Bauteilen. Das gilt bereits für die Energieerzeugung, Luft- und Raumfahrt, Zug- und Medizintechnik, Fahrzeugindustrie oder den Motorsport.
Optimierter Zwilling
„Die additive Fertigung hat sich somit zur eigenständigen Produktionsroute entwickelt, die es erlaubt, völlig neuartige Bauteile und Strukturen in kleinen Stückzahlen, aber auch in individualisierter Massenproduktion zu verwirklichen“, erklärt Roland Busch, Chief Operating Officer, CTO und Mitglied des Vorstands der Siemens AG die Vorteile des Technologiefeldes. So eröffnet 3D-Druck die Möglichkeit, Fahrgestelle für Rennautos, komplexe Teile für Flugtriebwerke, künstliche Hüftgelenke oder Gasturbinenschaufeln herzustellen. Nützlich ist additive Fertigung zudem bei der Produktion von Ersatzteilen für Maschinen, die jahrzehntelang im Einsatz sind, beispielsweise in Zügen oder Kraftwerken. Ist ein Upgrade erwünscht, lässt sich der digitale Zwilling eines Originalteils schnell optimieren, ehe das Teil tatsächlich hergestellt wird. Kein Wunder, dass 3D-Druck als industrielle Schlüsseltechnologie der Zukunft gilt.
Der weltweite Markt für additive Fertigung boomt – und damit auch der für entsprechende Druckmaterialien, Maschinen, Software und Dienstleistungen. Analysten gehen davon aus, dass sich das Marktvolumen von 9,7 Milliarden Euro im Jahr 2017 auf 26 Milliarden im Jahr 2021 vergrößern wird. Das überrascht angesichts der Vorzüge freilich kaum.
3D-Druck lässt die geometrischen Beschränkungen, die herkömmliche Werkzeugmaschinen einem Bauteil auferlegen, weit hinter sich. Das Druckverfahren erlaubt, nahezu beliebig komplexe Strukturen zu entwerfen. Das bedeutet, dass die Form eines Bauteils seiner Funktion entsprechend gestaltet werden kann. Innere Kanäle etwa, die Bauteilen bei großer Hitze Kühlung, beispielsweise in Gasturbinen, verschaffen, lassen sich erst mithilfe additiver Fertigung realisieren.
Nebenbei verringert sich das Gewicht, ohne dass die Stabilität beeinträchtigt wird. Und weil sich die Komponenten aufgrund des optimierten Designs weniger abnutzen, verlängert sich die Lebensdauer.
Digitalisierter Produktionsprozess
Doch leistungsstarke 3D-Drucker allein machen keinen Frühling. Die Revolution industrieller Herstellung wäre nicht möglich ohne die durchgängige Digitalisierung des Produktionsprozesses, angefangen bei der Design- und Engineering-Software über Simulationstools für den Druckprozess bis hin zur Steuerung und Überwachung des Druckers. „Diese Elemente müssen reibungslos ineinandergreifen“, sagt Ingomar Kelbassa, Leiter des Technologiefeldes „Company Core Technology Additive Manufacturing“. „Es ist letztlich nicht die einzelne Technologie, die den Erfolg des 3D-Drucks ermöglicht, sondern das Komplettpaket.“
Man sagt, die additive Fertigung wird eine Revolution in der Fertigung auslösen. Wie schätzen Sie das Potential ein?
Meboldt: Das Besondere an der Technologie ist, dass man zwischen virtueller und realer Welt fast nahtlos wechseln kann und werkzeuglos fertigt. Seit gut 20 Jahren ist die additive Fertigung als „Rapid Prototyping“ aus der Produktentwicklung nicht mehr wegzudenken. Heute ermöglicht die Technologie komplett durchdigitalisierte Fertigungsrouten, an deren Ende Serienprodukte stehen, die nur durch 3D-Druck realisiert werden können. Vom Nutzen dieser Produkte, nicht von der Technologie selbst, hängt der industrielle Erfolg additiver Fertigung letztlich ab.
Manche Unternehmen beklagen aber, dass die Technologie oft noch nicht für serienreife Produkte taugt.
Meboldt: Dann denken Sie mal an Feinguss – der wurde bereits im alten Ägypten praktiziert. Die Erfahrung mit 3D-Druck ist im Vergleich dazu extrem kurz – und leistet trotzdem bereits Beachtliches. Das ist also kein Argument gegen dieses Verfahren, das zudem ständig verbessert wird. Hinzu kommt: Wenn ich 3D-Druck erfolgreich in der Serienfertigung einsetze, kann ich bestehende Bauteile nicht einfach kopieren. Man muss das Design und die Wertschöpfungskette von Grund auf neu denken. Aber hat man sich die Mühe gemacht, eröffnet dieses Verfahren bisher ungeahnte Möglichkeiten. Und zwar nicht nur in punkto Design oder Funktionalität – sondern auch bei der massiven Einsparung von Entwicklungs- und Herstellungszeiten und Kosten.
Inwieweit erfüllt Siemens die Voraussetzungen für die Industrialisierung additiver Fertigung?
Meboldt: Siemens hat alle Kompetenzen, ein Treiber additiver Fertigung zu sein – und zeigt heute schon, welche Vorteile dieses Verfahren mit sich bringt. Das Unternehmen verbindet dabei drei wichtige Elemente: Prozesssteuerung, die Software und Anwendungsfelder, etwa Gasturbinen, für die ja bereits Bauteile wie Gasturbinenschaufeln gedruckt werden. Man muss freilich darauf achten, trotz der Größe des Konzerns flexible Entscheidungsprozesse zu ermöglichen.
Wo sehen Sie additive Fertigung in den kommenden Jahren?
Meboldt: Normalerweise interessiert sich niemand dafür, wie etwas hergestellt wird. Das ist beim 3D-Druck anders, weil wir eine Technologie haben, die heute gleichzeitig im Kinderzimmer und auf höchster Geschäftsebene eingeführt wird. Das hat einerseits zur Folge, dass die Technologie maßlos überschätzt wird: Es wird nicht dazu kommen, dass alle Teile, die heute mit Gieß-, Fräs- oder Spritzverfahren hergestellt werden, eines Tages additiv produziert werden. Aber das ist auch gar nicht das Ziel. 3D-Druck ist vielmehr ein neues Fertigungsverfahren, das hinsichtlich der Prozesskette, beim Design und beim Material völlig neue, innovative Lösungen ermöglicht. Deshalb darf man andererseits die additive Fertigung nicht unterschätzen. Wenn Unternehmen abwarten, bis der Markt riesig ist, verpassen sie den Anschluss.
„Siemens ist ein Vorreiter in Sachen additiver Fertigung“, ist sich Roland Busch sicher. „Weltweit bietet kein anderes Unternehmen ein solch ganzheitliches Portfolio für die digitale Wertschöpfungskette an: vom optimierten Design über die Druckersimulation bis hin zur Prozessüberwachung.“ Es ist ein gezielt holistischer Ansatz, der Industriekunden nicht nur erlaubt, sich auf ihre Produkte zu konzentrieren, sondern überhaupt erst die Vertrauensgrundlage schafft, auf der sich die neue Fertigungsroute etablieren kann.
Dabei kann Siemens nicht zuletzt auf seine Expertise verweisen. Im Jahr 2013 entstanden die ersten 3D-gedruckten Brennerspitzen für Gasturbinen in angepassten Druckern der Firma EOS. 2014 eröffneten Siemens-Mobility-Mitarbeiter in Erlangen ein Kompetenzzentrum für additive Fertigung, das Ersatzteile für den Schienenverkehr entwirft und anfertigt und Kunden außerdem berät. 2016 übernahm Siemens 85 Prozent von „Materials Solutions“ in Großbritannien, eine der weltweit führenden Firmen für additive Fertigung. Ein Jahr später druckten und testeten Siemens-Ingenieure weltweit erstmals erfolgreich Gasturbinenschaufeln. Wenig später folgten gedruckte Brenner aus dem Siemens-Werk in Finspång, Schweden, die seit 2017 erfolgreich in einer kommerziellen Gasturbine im Einsatz sind. Bis 2025 plant Siemens Energy, insgesamt 200 Komponenten für die Fertigung mittels 3D-Druck zu qualifizieren.
Kreativraum für Funktionales
Seit 2018 unterstützt Siemens außerdem das US-Start-up Hackrod, das ein Fahrzeuggestell für einen futuristischen Rennwagen mithilfe der Product-Lifecycle-Management(PLM)-Software von Siemens entwirft, um es dann mit einem garagengroßen 3D-Drucker in die Wirklichkeit umzusetzen. Kein Wunder also, dass additive Fertigung zu einem von insgesamt 14 konzernweiten Innovationsfeldern gehört, in die Siemens im Geschäftsjahr 2017/18 500 Millionen Euro investierte. Die Gelder fließen dabei neben siemenseigenen Produktinnovationen vor allem in das digitale 3D-Druck-Portfolio.
Damit die frohe Botschaft des 3D-Drucks auch konzernweit gehört wird, hilft das von der Corporate Technology (CT) eingerichtete „AM (Additive Manufacturing) Design Lab“ in Berlin Siemens-Ingenieuren, das Gestaltungspotential der Technologie zu entdecken. „Es ist ein Kreativraum, in dem ich Design neu durchdenken kann – selbst für rein Funktionales wie Schaltanlagen“, sagt Ursus Krüger, der als Leiter der Berliner Forschungsgruppe „Additive Manufacturing“ das AM Design Lab aufgebaut hat. Die Experten dort bieten Schulung und Beratung an. Ihr Schwerpunkt liegt auf AM Design, Materialien, Simulation und Prozessen (first-time-right). Das Pendant dazu, das sich an Siemens-Kunden wendet, findet sich in Erlangen. Dort können sich Kunden im „Additive Manufacturing Experience Center“ (AMEC) der Siemens-Division Digital Factory nicht nur über 3D-Druck informieren, sondern auch einzelne Schritte des Druckprozesses erleben.
Additive Fertigung eröffnet der Industrie die Chance, eine neue Fertigungsroute mit einzigartigen Möglichkeiten zu etablieren. Trotz der unzähligen Möglichkeiten, die AM heute bereits der Industrie bietet: Noch ist die Technologie nicht so ausgereift, dass sich per Knopfdruck jedes gewünschte Bauteil produzieren ließe. Zum Beispiel kann sich ein Bauteil durch die starken Temperaturdifferenzen beim Laserschmelzen manchmal verziehen und verformen. Deshalb steht derzeit im Vordergrund, den Weg vom Entwurf hin zum Bauteil Routine werden zu lassen.
Wichtig ist das vor allem für den Metalldruck, dessen Produkte oft an kritischen Stellen, etwa in Motoren oder Turbinen, zum Einsatz kommen. Bei mehreren Komponenten für Gasturbinen hat Siemens die notwendige Zuverlässigkeit bereits erreicht. Der renommierte Druckerhersteller EOS verlässt sich wohl auch deshalb für die Metalldrucker seiner neuen Serie M300 auf Steuertechnik von Siemens.
Sicher in der Cloud
Mit industriellen Druckern und Software allein ist es natürlich nicht getan. Unternehmen müssen überdenken, wie sie additive Fertigung künftig in ihre Produktionsabläufe integrieren. Sie könnten beispielsweise agiler werden, indem sie bestimmte Komponenten erst bei Bedarf drucken, statt sie auf Lager zu halten. Das ermöglicht größere Flexibilität – und spart zudem Platz.
In einem weiteren Schritt ließen sich die Konstruktionsdaten in der Cloud speichern. Dahinter steht die Verheißung, dass Firmen Teile an jedem Ort ausdrucken können – in entlegenen Regionen etwa, die ansonsten mehrere Tage auf eine Ersatzteillieferung warten müssten. Doch die Sicherheit der digitalen Baupläne müsste gewährleistet sein. „Es gibt Ansätze, die Datensicherheit zu garantieren, Verschlüsselung oder Blockchain etwa“, sagt Kelbassa. „Weil die potentiellen Vorteile so groß sind, werden die Entwickler der 3D-Druck-Gemeinde sicher auch da eine Lösung finden.“
Additive Fertigung bei Siemens
Picture Credits: von oben: 2. Mit freundlicher Genehmigung von Xilloc.com, dem weltweit ersten 3D gedruckten patientenspezifischen Vollkieferimplantat. www.xilloc.com, 8. Hackrod, 12. getty images