Raum für neues Denken
Die additive Fertigung ermöglicht völlig neue Bauteile mit maßgeschneiderten Eigenschaften. Wer das Potenzial der neuen Fertigungsmethode voll ausschöpfen möchte, muss aber neu denken. Genau dafür hat Siemens in Berlin das „AM Design Lab“ eröffnet.
Von Christian Buck
Die Zukunft der Fertigung versteckt sich hinter der historischen Fassade des Wernerwerk-Hochhauses in der Berliner Siemensstadt. Im sechsten Stock des dunkelroten Backsteinbaus aus den 1920er Jahren hat das Additive Manufacturing (AM) Design Lab von Siemens seinen Sitz, und schon auf den ersten Blick erkennt man, dass hier unkonventionelles Denken und Arbeiten gefragt sind. Statt nüchterner Büroatmosphäre erwartet die Besucher hier ein Ambiente, das ein wenig an den Stil eines schwedischen Möbelherstellers erinnert: Der Raum ist mit hellem Holz getäfelt, „AM Design Lab“ verkünden bunte Buchstaben an der Wand, Glühbirnen hängen von der Decke, und auf dem Boden stehen schlichte Sitzklötze. Die Luft ist erfüllt von einem angenehmen Duft nach Wald. Kein Wunder: Die Kreativschmiede für den 3D-Druck wurde erst im Juni von Siemens-Technikvorstand Roland Busch eröffnet und riecht noch wie neu.
„Mit der additiven Fertigung können wir völlig neue Formen herstellen und Funktionen realisieren, die bisher nicht möglich waren“, sagt Ursus Krüger, Leiter des Design Lab. „Allerdings erfordert das auch ein neues Design-Denken bei den Konstrukteuren.“ Und genau darum geht es in Berlin: Siemens-Mitarbeiter aus allen Geschäftsbereichen können hier an konkreten Projekten arbeiten und dabei auf die Expertise von Krüger und seinen rund 30 Mitarbeitern zurückgreifen – unter ihnen Experten für computergestütztes Design, Simulationen und Fertigungsprozesse. Bei Bedarf kann die Beratung auch direkt vor Ort stattfinden, zum Beispiel im AM Experience Center von Siemens in Erlangen – etwa, wenn ein Geschäftsbereich gemeinsam mit einem Kunden über eine mögliche Zusammenarbeit diskutiert. Am Ende wissen die potenziellen Anwender, ob ihr spezielles Bauteil überhaupt für den 3D-Druck geeignet ist und ob sich der Einsatz des Fertigungsverfahrens wirtschaftlich lohnt. Eines ist jetzt schon sicher: Additive Manufacturing bietet für Siemens enorme Chancen, weshalb das Unternehmen große Hoffnungen in das Design Lab setzt.
„Mit Additive Manufacturing können wir völlig neue Formen herstellen und Funktionen realisieren, die bisher nicht möglich waren.“
Gemeinsame Arbeit im virtuellen Raum
Dort lassen sich neue Bauteile an zwei Computerarbeitsplätzen konstruieren, die alle erforderlichen Werkzeuge bereitstellen – beispielsweise die NX-Suite von Siemens als Grundlage für das Design, eine Software für die Topologieoptimierung (sie berechnet, wo die Kräfte verlaufen und wo man Material einsparen kann) und ein Programm, das am Ende die einzelnen Schichten für den 3D-Drucker berechnet. Für die gemeinsame Arbeit stehen neben den Computermonitoren auch eine Projektionswand und Virtual-Reality-Brillen zur Verfügung. Die Entwickler können sich also auch in einem virtuellen Raum treffen und dort ihr Design von allen Seiten detailliert betrachten und optimieren. Sind sie damit zufrieden, können die ersten Prototypen auf diversen 3D-Druckern aus der digitalen in die reale Welt übertragen werden.
Allerdings kann auf dem Weg von der ersten Idee bis zum 3D-Druck eine Menge schiefgehen. „Additive Manufacturing ist ein sehr komplexes Thema“, so Krüger. „Hier gibt es dramatisch viele Möglichkeiten zu scheitern.“ Darum diskutiert sein Team nicht nur mit künftigen Anwendern über Materialien und Verfahren, sondern entwickelt gemeinsam mit Siemens Digital Factory auch neue Werkzeuge, um den Entwicklern das Leben zu erleichtern. Ihre neueste Schöpfung ist ein NX-Modul, das am Ende der Designphase den Herstellungsprozess des Bauteils simuliert und im Januar 2019 auf den Markt kommen wird. Später soll eine weitere Software folgen, die sicherstellt, dass schon im ersten Versuch eine brauchbare Komponente aus dem 3D-Drucker kommt.
„First time right“, nennt Krüger das und ergänzt: „Bisher spielen die Entwickler mit vielen Parametern der Bauteile und schauen dann, ob am Ende das herauskommt, was sie wollen. Wir setzen hingegen auf frühzeitige Simulationen und wollen Form, Prozess und Material gleich so wählen, dass das Bauteil bereits beim ersten Versuch die gewünschten Eigenschaften wie Festigkeit, Dichte oder Porosität hat.“ Software ist dazu der Schlüssel: Der Konstrukteur soll sich in Zukunft ganz auf die Funktion des neuen Bauteils konzentrieren können – und das Programm sorgt automatisch dafür, dass es sich auch fertigen lässt.
Zu welchen neuen Lösungen man dank Additive Manufacturing kommen kann, zeigt das Beispiel einer industriellen Gasturbine von Siemens.
„Geistiges Aufknacken“ statt eingefahrener Denkmuster
Zu welchen neuen Lösungen man dank Additive Manufacturing kommen kann, zeigt das Beispiel einer industriellen Gasturbine von Siemens. Sie soll künftig neben Erdgas auch Wasserstoff verbrennen, was hohe Anforderungen an die Brennerspitzen stellt: Sie werden deutlich stärker erhitzt und brauchen darum eine bessere Kühlung. Dank 3D-Druck konnten die Ingenieure Metallgitter in die Brennstoffzuführung integrieren, sodass das Erdgas beziehungsweise der Wasserstoff beim Vorbeiströmen Wärme abtransportieren – der Brennstoff wird so zum Kühlmittel. „Das war nur möglich, weil das Design des Bauteils völlig neu durchdacht wurde“, erklärt Christoph Kiener, Experte für AM-Design bei Siemens Corporate Technology. Genau darin sieht er auch die Aufgabe des Berliner Design Labs: „Durch die ungewöhnliche Atmosphäre wollen wir ein geistiges Aufknacken bewirken und eingefahrene Denkmuster hinterfragen.“
Der Zeitpunkt dafür ist gut gewählt, denn Additive Manufacturing nimmt spürbar an Fahrt auf. Für Siemens hat es hohe strategische Bedeutung und ist darum eine von 14 „Company Core Technologies“, die für den langfristigen Erfolg des Unternehmens entscheidend sind. Schon heute beschäftigen sich neben den Gasturbinen-Experten unter anderem auch Entwickler in den Bereichen Mobilität und elektrisches Fliegen mit dem Thema. Am Siemens-Standort Finspång (Schweden) stehen bereits rund 20 3D-Drucker, die Komponenten für Gasturbinen herstellen. Und in Worcester (Großbritannien) eröffnet im Dezember ein neues AM-Werk mit mehr als 50 Druckern. „Auch in der Automobilindustrie und im Medizinbereich spielt Additive Manufacturing inzwischen eine große Rolle“, sagt Krüger, der sich seit zehn Jahren damit beschäftigt. „Hinzu kommt: Die Entwicklung der 3D-Drucker verläuft viel stürmischer als Entwicklungen im klassischen Maschinenbau. Es tut sich also sehr viel, und wir wollen unser Know-how und die neuesten Trends in das gesamte Unternehmen tragen. So planen wir zum Beispiel gerade weitere Design Labs in den USA und China.“
Umgekehrt freuen sich die Berliner Experten auf viele ungewöhnliche Ideen aus der gesamten Siemens-Welt – wie sie zum Beispiel beim Ideenwettbewerb „Race4AM“ entstanden sind. Initiiert von Roland Busch, waren Mitarbeiter aus allen Bereichen aufgerufen, neue Bauteile und Geschäftsmodelle vorzuschlagen. 364 Vorschläge kamen zusammen, und bei der Eröffnung des Design Labs waren die zwölf besten Teams in Berlin. Bauteile für Verdichter, Elektromotoren oder Leistungsschalter: Es war eine Vielzahl unterschiedlichster Ideen dabei. Die Top drei haben jetzt die Chance, ihre Ideen Richtung Produkt zu entwickeln. „Schon jetzt haben wir einen großen Ideenpool“, freut sich Krüger. „Das bringt uns unserem Ziel ein großes Stück näher: Making the impossible.“
29.11.2018
Christian Buck
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