Am roten Faden durchs Hohlraumlabyrinth
3D-Druck im Pulverbettverfahren ermöglicht die Herstellung komplexer Metallbauteile, von denen Maschinenbauer früher nur träumen konnten. Am Ende des additiven Fertigungsprozesses gibt es jedoch eine Herausforderung – wie das verbliebene Pulver aus dem Bauteil entfernen? Siemens-Forscher entwickeln mit Solukon aktuell einen Algorithmus für eine Reinigungskabine des Maschinenbauunternehmens, mit deren Hilfe das Pulver automatisch vollständig entfernt werden kann.
von Hubertus Breuer
Bleibt am Ende des additiven Fertigungsprozesses Pulver in einem zigtausend Euro teuren, 3D-gedruckten Metallbauteil zurück, ist dieses schnell Schrott. Wenn ein stattliches Objekt mit Stützstrukturen und organisch anmutenden Kühlkanälen nach vielen Stunden aus dem Laserschmelzdrucker ans Tageslicht kommt, findet sich im Innern immer noch Pulver. Dieses muss beseitigt werden, bevor der nächste Bearbeitungsschritt - eine Wärmebehandlung - erfolgen kann. Nach dem Druckvorgang stehen die 3D-gedruckten Objekte unter Spannung. Die stammt von Millionen Mikroschweißnähten des 3D-Drucks und wird durch eine anschließende Wärmebehandlung im Glühofen abgebaut. „Entfernt man das Pulver nicht komplett, versintern die Reste im Inneren und machen das Teil im schlimmsten Fall unbrauchbar“, sagt Christoph Hauck, Geschäftsführer des Unternehmens MBFZ toolcraft, das unter anderem mit 3D-Druck Hightech-Bauteile für die Luftfahrtindustrie, die Medizintechnik und andere Branchen anfertigt. „Dann haben wir nicht nur die finanzielle Einbuße, sondern zudem ein massives Lieferproblem.“
„Das Resultat ist nichts Geringeres als die Verbesserung der Prozesskette und eine Steigerung der Akzeptanz der additiven Fertigung."
Doch es bestehen gute Aussichten, dass Hauck künftig von der Sorge um das Restpulver komplett befreit wird. Der auf die Nachbearbeitung additiv gefertigter Strukturen ausgerichtete Anlagenbauer Solukon hat sich auf Systeme spezialisiert, die gedruckte Bauteile automatisch reinigen – und nun erstmals auch mithilfe eines digitalen Zwillings und eines intelligenten Algorithmus. Dank der digitalen Konstruktionspläne und der bekannten Pulvereigenschaften errechnet Siemens-Software in einer Kombination von dreidimensionaler Geometrieanalyse und Partikelsimulation, wie die Reinigungsmaschine das Bauteil drehen, kippen oder taumeln lassen muss, damit der Metallstaub aus dem kostbaren 3D-Druck-Teil vollständig rieselt. „Das Resultat ist nichts Geringeres als die Verbesserung der Prozesskette und eine Steigerung der Akzeptanz der additiven Fertigung hinsichtlich Produktivität und Arbeitsschutz“, erklärt Andreas Hartmann, Geschäftsführer der Solukon Maschinenbau GmbH.
Personen als Partikel
Auf der führenden Messe für additive Fertigung, formnext, hat die Technologie im November 2018 ihren ersten öffentlichen Auftritt. Solukon stellt zusammen mit Siemens einen Prototypen vor. Der demonstriert anhand eines Plexiglaswürfels, wie das Pulver mittels geschickter Steuerung durch komplexe Bauteile rutscht und schließlich herausfällt. „Simulation ist für solche vielschichtigen Strukturen prädestiniert", erklärt Christoph Kiener, von dem die neue Reinigungsidee stammt und der sie ausgiebig in seinem Labor bei Siemens getestet hat. „Die jahrzehntelange Simulationsexpertise unserer Mathematiker, gepaart mit der Erfahrung unserer 3D-Druck-Fachleute und anderer Kollegen aus der Siemens Corporate Technology ermöglichte es uns, diese Herausforderung anzunehmen. So konnten wir das anspruchsvolle Problem in einem agilen Entwicklungsprozess durch Herunterbrechen in weniger komplexe Arbeitspakete bearbeiten."
Auf der führenden Messe für additive Fertigung, formnext, hat die Technologie im November 2018 ihren ersten öffentlichen Auftritt.
Was die Algorithmen des Simulationsprogramms errechnen, ist eine Art roter Faden durch das Hohlraumlabyrinth, entlang dessen Verlaufs das Pulver von innen nach außen geführt wird. Pulver, das dem Ausgang am nächsten liegt, wird naturgemäß als Erstes hinausbefördert. Das macht wiederum den Weg für das nachfallende Pulver frei. Gleichzeitig wird errechnet, wie sich das innen noch vorhandene Material bei jeder Bewegung verschiebt. Dabei konnte das Entwicklerteam auf eine mathematische Vorgehensweise zurückgreifen, die bei Siemens Corporate Technology vor einigen Jahren für die Fluchtwegplanung von Personen in Gebäuden entwickelt wurde.
Pulver wird recycelt
Ausgestattet mit weiteren Algorithmen berechnet die Software jetzt den kürzesten Weg für das Metallpulver zum Ausgang. Diese Bewegungsabfolge wird dann an die Siemens-Steuerung der Reinigungsanlage weitergegeben. Mithilfe der Motoren, der Schwenkvorrichtung und eines Rüttlers, der die Struktur definiert vibrieren lässt, ist selbst ein komplexer Irrgarten am Ende vollständig entleert. „Das funktioniert bei den meisten gängigen Geometrien – allerdings gibt es Formen, die einfach nicht entleerbar sind: An der Struktur einer Fischreuse würde sich unser Algorithmus wohl noch die Zähne ausbeißen", sagt Kiener.
Dabei ist diese Technologie nicht nur innovativ: „Für die industrielle additive Fertigung von Bauteilen ist sie angesichts des bisherigen Reinigungsaufwands geradezu unverzichtbar“, ist sich Hartmann sicher. Und das Verfahren spart Pulver, weil das entfernte Material wieder eingesetzt wird. „Die Technologie bietet für hochwertige 3D-Druck-Teile nur Vorteile“, sagt Hauck von MBFZ toolcraft. „Deshalb planen wir auch, die Technologie einzusetzen.“
12.11.2018
Hubertus Breuer
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