Tinder für das industrielle IoT

Ein Internet der Dinge, in dem Dinge intelligent, autonom, verteilt und dezentral miteinander interagieren und sich selbst-organisieren: Das ist der Trend in vielen Branchen.  Mit Coaty hat Siemens jetzt ein Plattform-unabhängiges Interaktions-Framework für dezentrale, kollaborierende autonome Systeme entwickelt. Coaty ist als Pilotanwendung in der verteilten Logistik im Einsatz und ermöglicht das direkte Zusammenspiel zwischen sich autonom verhaltenden IoT-Geräten sowie Edge- und Cloud-Diensten, aber auch dem Menschen.

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Eine Welt, in der die Fähigkeiten technischer Komponenten aus allen Branchen permanent zunehmen; eine Welt, in der nach immer noch dynamischer konfigurierbaren und schneller skalierbaren Systemen verlangt wird; eine Welt, in der das Gros der geschäftsrelevanten Daten und Funktionen zentral in den Clouds der großen IT-Player gelagert und betrieben werden. Das ist eine zunehmend komplexe Welt.

 

„Das ist die Realität, in der wir uns bewegen und in der wir nach Lösungen suchen, wie wir für unsere Kunden die Komplexität beherrschbar machen können“, sagt Ralph Büsgen, Leiter Fahrerlose Transportsysteme in der Fabrikautomatisierung bei Digital Industries. Bereits heute sei es in vielen Logistikapplikationen an der Tagesordnung, dass teilintelligente Fahrzeuge fahrerlos unterwegs seien und dabei permanent ihre Koordinaten übermittelten.

 

„Unsere Kunden – insbesondere die Automobilbranche – erwarten von uns den nächsten Schritt bei der Digitalisierung der Fabrik: selbstorganisierende Maschinen und Logistik“, erzählt Büsgen. „Dabei fokussiert die zentrale Produktionskoordination auf die Überwachung und Optimierung der Fertigungsprozesse in Echtzeit.“ Maschinen und Logistik im Shopfloor würden dabei mit mehr Intelligenz ausgestattet und befähigt, in einer mehr dezentralen Struktur miteinander zu kommunizieren und autonom zu kooperieren. 

Kommunikation im kollaborativen IIoT

Solche sich selbständig organisierenden verteilten Systeme sind ein entscheidender Schritt hin zu einem Industriellen Internet der Dinge (IIoT). „Die Vorstellung vom Internet der Dinge ist in vielen Köpfen noch die eines hierarchischen Systems, das überwiegend zentral organisiert ist. Für viele Bereiche ist das die richtige Lösung. Wir sehen aber auch neue Anwendungsfälle für verteilte und kollaborative Strukturen, die wir mit einem hierarchischen System nicht adressieren können“, erklärt Ralph Büsgen.  Mit der Infrastruktur eines solchen kollaborativen IoT könnten sogar Teilsysteme, deren Zusammenspiel vorher nicht detailliert geplant wurde, spontan zusammenarbeiten. In der Vision stehen am Ende beispielsweise ein mobiler Roboter mit Greifarm und ein Förderband, die sich selbstständig zu einer neuen Lösung für Transportaufgaben in der Fertigung integrieren.

 

In der Realität hat Siemens bereits eine Lösung namens Coaty entwickelt. Coaty steht für ein kollaboratives IoT-Framework, das als Open-Source-Software verfügbar ist. Als Software-Komponente auf dem IoT-Device installiert, etabliert Coaty ein Kommunikationsnetzwerk, dessen Teilnehmer lose gekoppelt sind und ohne zentrale Koordinierungsinstanz ad hoc interagieren. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes namens CrESt wurde Coaty ebenfalls eingesetzt und in Zusammenarbeit mit der Berliner Firma ASTI InSystems für Anwendungen in der Logistik weiterentwickelt. ASTI InSystems stellt sogenannte AGVs her. Die Abkürzung steht für Automated Guided Vehicles, also sich selbst steuernde Logistikfahrzeuge.

 

„Mit Coaty ausgestattete Fahrzeuge besitzen das nächste Level an autonomer Handlungsfähigkeit“, sagt Jochen Nickles. Er arbeitet bei Corporate Technology, der globalen Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Siemens. „Die Fahrzeuge wissen nicht nur, wo sie sind und wohin sie fahren. Sondern sie sprechen sich auch mit anderen Fahrzeugen ab, wer welche Aufgabe übernimmt. Und zwar ohne Intervention einer zentralen Steuerung.“ Technisch funktioniere dies über die Integration der Coaty-Software in die IoT-Geräte, erklärt Nickles. „Die Geräte haben eine Laufzeitumgebung und eine drahtlose Netzwerkverbindung. Sie kommunizieren über ein sogenanntes Publish-Subscribe-Verfahren. Das ist ein Messaging-Dienst, mit dem Nachrichten zwischen unabhängigen Anwendungen gesendet und empfangen werden können.“ 

Verteilte Intelligenz

Im Fachjargon wird von einer „Any-to-Any-Kommunikation“ gesprochen. „Man muss sich das so vorstellen, als würde ich zu einem mir unbekannten Auditorium sagen: Wer kann mir helfen“, erklärt Nickles den Fachbegriff. „Meine Frage impliziert: Wer hat die Fähigkeiten, die Zeit und ist gerade in der Nähe?“ Mit solch einer Any-to-Any-Kommunikation ließen sich Daten im verteilten System austauschen, auffinden, abfragen, ändern und persistieren sowie externe Prozeduraufrufe durchführen. Ein Kollege, sagt Nickles schmunzelnd, habe eine passende Beschreibung gefunden: „Coaty ist Tinder für das industrielle IoT: Die Teilnehmer entdecken sich, treten in Kommunikation und arbeiten dann zusammen oder nicht.“

 

Ein Proof-of-Concept wurde im März 2020 erfolgreich im Siemens Automotive Showroom & Testcenter in Nürnberg umgesetzt. Dabei handelte es sich um eine selbstorganisierende Logistikapplikation bestehend aus mehreren fahrerlosen Transportsystemen.

 

Auch neue Teilnehmer und Features lassen sich damit laut Nickles dynamisch und spontan zu bestehenden IoT-Systemen hinzufügen. Dabei sind alle Typen von Systemteilnehmern wie Sensoren, mobile Geräte, Edge- und Cloud-Dienste gleichwertige Kommunikationspartner. Laut Nickles geht es bei Coaty darum, autonome System zu befähigen in beliebigen Konstellationen zu interagieren: „Der erste Schritt dazu ist die hierarchiefreie Kommunikation einschließlich der entsprechenden, verteilten Koordinationsalgorithmen zu etablieren. Dies ermöglicht uns dann sowohl zentral organsierte als auch dezentrale Anwendungen in ein und demselben System umzusetzen.  Die Integration von KI-Elementen wäre der nächste Schritt, um das volle Potential dieser Systeme auszuschöpfen.“ 

Integration ins Produktportfolio

Das mittelfristige Ziel ist es laut Ralph Büsgen, das über Coaty erlangte Wissen in den SIMOVE-Systembaukasten von Siemens zu integrieren und damit die Automatisierung von Logistik-Applikationen mit fahrerlosen Transportsystemen zu innovieren. Darüber hinaus, sieht Büsgen in der zukünftigen digitalen Fabrik neben Edge- und Cloud-Diensten die Interaktion von Smartphones und Wearables mit Maschinen: „Wir sprechen hier vom sogenannten Digitally Empowered Human.“ 

Sandra Maria Wild - June 2020

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