Die Zukunft der Fertigung: Evolution im Schnelldurchgang

Bionik entwickelt Technologie mit organischem Design. Dank generativer Software und 3D-Druck steht sie vor einer Revolution, die ganze Industriebranchen nachhaltig verändern wird. Auch Siemens setzt deshalb künftig vermehrt auf Bionik.

 

von Hubertus Breuer

Wenn Christoph Kiener aus dem Fenster der Siemens Corporate Technology (CT) in München-Neuperlach blickt, sieht er Rasen, gepflasterte Wege und sich im Wind wiegende Platanen – und auf die Bäume kommt es ihm an. „Die Aststruktur beherbergt ein Transportsystem, das einen optimierten Nährstoffkreislauf ermöglicht. Nicht anders ist es in der Lunge, in Blutgefäßen oder Wurzeln – immer werden Strömungen geleitet, verzweigt und verteilt“, sagt Kiener, der innerhalb der CT neue Designmöglichkeiten für unterschiedlichste Siemens-Technologien erkundet.

 

So hat ihn das universelle Bauprinzip der Natur bereits zu einer Designstudie für Brennerspitzen inspiriert, wie sie in Kraftwerken und in der Energieverfahrenstechnik eingesetzt werden. Dort werden feste oder flüssige Brennstoffe oder Biomasse in Brenngase umgewandelt und verbrannt. Die Idee dazu kam Christoph Kiener nicht von ungefähr. Bereits 2014 wurde eine von ihm entwickelte Spitze mittels additiver Fertigung aus Metall hergestellt, die aufgrund ihres Designs viel besser zu kühlen war als ihre Vorgänger. Damit konnte der Brenner trotz maximaler Temperatur von rund 1500 Grad Celsius nicht überhitzen – damals ein Novum.

Dieser Erfolg ließ Kiener nicht ruhen: Seitdem arbeitet er daran, mit Hilfe der additiven Fertigung möglichst viele Funktionen und Baugruppen in einem Bauteil zusammen zu fassen. Sprich: mit Additive Manufacturing auf diesem Feld gänzlich neue Möglichkeiten zu schaffen.

 

Kieners erste Skizze für die Designstudie zeigte verzweigte Kühlleitungen. Dem folgten Entwürfe am Computer, die Optimierungsprozesse durchliefen, bis Modelle vorlagen, die an 3D-Drucker geschickt werden konnten. Das Ergebnis: Eine eimergroße Plastikbrennerspitze mit sechs Anschlüssen, aufgestellt in Kieners Büro. Sie ähnelt einer Fenchelknolle, ist von Adern durchzogen und, einer Zwiebel vergleichbar, in Schichten aufgebaut.

 

Wenn die neuartige Brennerspitze auch nicht serienmäßig umgesetzt wurde, ist sie ein Beispiel für Bionik – Design, das sich bei dem in Jahrmillionen evolutionärer Auslese entstandenen Ideenfundus der Natur bedient. Heute steht dieser Ansatz dank zweier neuer Fertigungstechniken, der generativen Software und dem 3D-Druck, vor einer Revolution, die Branchen wie die Fahrzeugindustrie oder die Luft- und Raumfahrt von Grund auf verändern wird. „Bei Siemens wollen wir die neuen Gestaltungsmöglichkeiten mithilfe unserer PLM-Software ebenfalls nutzen, denn die so entwickelten Bauteile sind meist leistungsstärker, kostengünstiger und wartungsärmer“, erläutert Kiener.

Mit Wenigem maximale Ergebnisse erzielen

Die neuen generativen Computerprogramme erweitern heute das Repertoire der Bionik. Obwohl der digitale Ausleseprozess nicht auf Ideen aus der Natur beschränkt ist, wirken die entstehenden Designs, je länger die Algorithmen rechnen, umso organischer. Das ist kein Wunder, denn was sich im evolutiven Entwicklungsprozess der Natur als gut erwiesen hat, erweist sich auch im digitalen Testverfahren als geeignet.  Zudem sind die technischen Bauteile bei geringem Material- und Energieeinsatz in der Regel sehr leistungsstark – fast so, wie es auch der Natur gelingt, mit Wenigem maximale Ergebnisse zu erzielen. Auf diesem Wege perfektioniert die Software das Strömungsverhalten eines Bauteils, seine Wärmeübertragung, Festigkeit, Tragkraft und andere Eigenschaften, ohne dass ein Ingenieur auch nur einen Schraubenzieher in die Hand nehmen müsste. Und nachdem die generative Software eine Lösung errechnet hat, ermöglicht additive Fertigung, selbst komplexe Designs schnell, materialsparend und kostengünstig zu realisieren, die sich nur unter hohem Aufwand oder überhaupt nicht fräsen oder gießen ließen.

Haltbarer, leistungsstärker und günstiger als bisherige Modelle

Auch die Brennerspitze durchlief diesen Werdegang. Kiener und sein Team speisten die ersten Skizzen in ein Simulationsprogramm der Siemens Product Lifecycle Management (PLM) Software ein. „Wir gaben dem Programm vor, welche Bedingungen eingehalten werden mussten und was wir erreichen wollten. Am Ende erhielten wir einen optimierten Entwurf“, sagt Kiener. In diesem Fall war das Ziel, dass sich der Brenner nicht überhitzen sollte – und so rechnete das PLM-Programm über Tage hunderte Anordnungen der Kühlleitungen und der die Reaktionsmedien verteilenden Leitbleche aus, bis die optimale Strömungsführung vorlag. „Eine Evolution im Schnelldurchgang“, wie Kiener anmerkt. „Simulationen und Tests legen nahe, dass unser Design nicht nur seinen Zweck erfüllt, sondern haltbarer, leistungsstärker und günstiger als bisherige Modelle ist.“

 

Auf die gleiche Weise entwickelte Siemens auch andere Produkte zur Serienreife – etwa Gasturbinenschaufeln, die an leicht verdrehte Haifischflossen erinnern. Bereits seit 2016 werden sie in kommerziellen Turbinen eingesetzt. Die neue Methodik verkürzte hier zudem die Zeit vom Entwurf bis zur Produktion von zwei Jahren auf zwei Monate.

Mehrere Materialien in einem Bauteil

Und die Entwicklung geht weiter. In Kieners Nachbarbüro arbeitet der Bionik-Experte Tobias Kamps an Druckverfahren, die mehrere Baustoffe in ein Teil integrieren. Auch hier kommt Bionik zur Anwendung. „Ein Arm besteht aus Knochen, Fleisch, Adern, Haut“, sagt Kamps. „Mit additiver Fertigung werden wir Bauteile ebenfalls aus mehreren Materialien in einem Stück herstellen können.“ So ließe sich ein durch generative Algorithmen angepasstes Bauteil dort, wo es in der Nähe einer Wärmequelle eingesetzt wird, aus teuren, hochtemperaturbeständigen Legierungen formen, während seine weiter entfernt arbeitenden Bestandteile aus gewöhnlicheren Metallen hergestellt werden könnten.

16.04.2018

Hubertus Breuer

Was hat Knete mit additiv gefertigten Bauteilen zu tun? In seinem Vortrag zur Eröffnung des AM Design Labs am 21. Juni 2018 führt Christoph Kiener es vor: Am Anfang seines Designs für eine Brennerspitze, die einer Fenchelknolle ähnlich sieht, standen bunte Knet-Modelle. Kiener wird als Design-Experte von Corporate Technology (CT) künftig mit Produktentwicklern an kreativem Design arbeiten. Er erklärt: „Beim Design für die additive Fertigung habe ich grundsätzlich mehr Freiheiten als in der konventionellen Fertigung. Das gilt für verschiedene additive Verfahren und, unabhängig von Kunststoff- oder Metallwerkstoffen. Deshalb ermuntern wir die Produktentwickler, unbefangen auszuprobieren, die Grenzen konventioneller Fertigungsverfahren in dieser Zeit mal zu vergessen und vielleicht vor dem CAD-Design erstmal zu kneten.“

 

Grenzen sprengen und Ideen realisieren

Das AM Design Lab bietet daher einen modernen Raum für kreatives Arbeiten und steht Designern, Ingenieuren und Produktentwicklern aus allen Siemens-Geschäftseinheiten zur Verfügung. Kiener sagt: „Ich habe zwar viele Designbeispiele, aber hauptsächlich wollen wir mit den Entwicklern an ihren eigenen Projekten arbeiten.“ Sie können  ihre Ideen verwirklichen und Anwendungen schnell auf ihre Brauchbarkeit testen. „Damit wir bei additiver Fertigung weiter an der Spitze bleiben, brauchen wir wesentlich mehr Spezialisten“, erklärt Ursus Krüger von Corporate Technology. Seine Abteilung hat das Labor aufgebaut. „Hier lernen die Entwickler, Fertigungsprozesse zu simulieren und die verschiedenen additiven Verfahren zu bewerten. Dazu stellen wir ihnen unser fundiertes Know-how, geeignete Software, sowie unsere ‚3D-Drucker‘-Ausstattung zur Verfügung. Das Lab dient außerdem als Testumgebung für PLM Design-Software. Hier arbeiten wir eng mit unseren Kollegen bei Digital Factory zusammen.“

 

Kick-start durch Ideenwettbewerb

Bei der Eröffnungsfeier für das neue Labor würdigte Siemens CTO Roland Busch auch die Gewinner des Ideenwettbewerbs zu Additive Manufacturing. Bei dem Siemens-weiten Wettbewerb hatte Busch die Mitarbeiter aufgerufen, nach neuen Geschäftsmöglichkeiten und Anwendungen für die additive Fertigung zu suchen – Ergebnis waren 364 neue Ideen. Den Teams der zwölf Top-Ideen überreichte Busch 3D-gedruckte Pokale. Und nicht nur das: Die drei Gewinner haben nun die Gelegenheit, ihre Ideen zusammen mit Experten des AM Design Labs weiter in Richtung Serienprodukt zu entwickeln. Volkmar Lüthen vom Design Lab Team erklärt: „Die Vielzahl der Ideen zeigt das große Potential der additiven Fertigung für Siemens. Wir freuen uns darauf, die Kompetenz für diese Technologie jetzt noch besser im Unternehmen zu verbreiten – mit dem Fokus auf Kreativität.“

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