Vollgas in der Fertigungsstraße

Ein aktuelles Forschungsprojekt von Volkswagen and Siemens

Der digitale Zwilling ermöglicht es, Simulationsmodelle für komplexe Systeme einfacher zu erstellen. Ein gemeinsames, jüngst abgeschlossenes Forschungsprojekt von Volkswagen und Siemens Corporate Technology zeigt, wie dieser Ansatz in Fertigungsstraßen für mehr Effizienz sorgt.

Eine Sicherheitstür, ein Drehtisch und ein Roboter – das sind drei Komponenten in einer Produktionsanlage bei Volkswagen, in der die Heckklappe eines PKWs montiert wird. Der Roboter greift die Klappe vom Drehtisch, der zuvor in die richtige Position kippt, und reicht sie an die nächste Station weiter. Die geschlossene Sicherheitstür schirmt Menschen in der Fabrik von den Bewegungen des Tischs und des Roboters ab, sie muss jedoch geöffnet werden, wenn eine neue Klappe auf den Tisch gelegt wird. Gesteuert und koordiniert werden die drei Anlagenteile durch Software, die zum Beispiel sicherstellt, dass Roboter und Drehtisch sich nicht bewegen, solange die Sicherheitstür offensteht. Ein Fehler in der Software könnte schwere Unfälle und großen Sachschaden verursachen. Ausführliche Tests – insbesondere auch frühzeitige am digitalen Zwilling der Anlage – helfen, solche Unfälle zu vermeiden.

Virtuelle Inbetriebnahme ist Standard und braucht viel Zeit

In den Fertigungsstraßen von Volkswagen nichts Neues: „Bevor wir eine Fertigungsanlage – oder auch einzelne neue Komponenten – real in Betrieb nehmen, machen wir immer eine sogenannte virtuelle Inbetriebnahme“, erklärt Torben Meyer, Projektleiter bei Volkswagen. „Das heißt, wir testen die Funktionalitäten erst an einem virtuellen Modell des Systems und stellen so sicher, dass die reale Inbetriebnahme – bei der wir die Anlage kostenintensiv anhalten müssen – möglichst schnell geht.“ Etwa sechs Wochen müssen die Verantwortlichen bislang für die virtuelle Inbetriebnahme der Fertigungsstraße einplanen. Rund zwei Drittel der Zeit werden dafür benötigt, das virtuelle Inbetriebnahme-Modell überhaupt erst zu schaffen – eine lange Zeitspanne. Sie zu verkürzen war das Ziel der Zusammenarbeit – im Rahmen des inzwischen abgeschlossenen EU-Förderprojekts Maya, an dem Volkswagen und Siemens beteiligt waren. (mehr Informationen über die Potenziale der Digitalisierung für Industrieunternehmen)

Komplexes System mit viel Dokumentation

„Eine Fertigungsstraße wie bei VW ist eine komplexe Anlage aus vielen untereinander vernetzten und eingebetteten Systemen“, sagt Simulationsexpertin Veronika Brandstetter von der zentralen Siemens-Forschung Corporate Technology (CT). „Die einzelnen Komponenten können eigene Entwicklungen oder zugekaufte Produkte sein. Meistens existieren bereits Dokumentationen und Entwicklungsunterlagen sowie Modelle in unterschiedlicher Detailtiefe und in verschiedenen Notationen. Die Verantwortlichen für die virtuelle Inbetriebnahme stehen vor der mühsamen und fehleranfälligen Herausforderung, von vielen Kollegen in verschiedenen Entwicklungsabteilungen dieses heterogene Material einzusammeln und daraus das Simulationsmodell der Anlage –  ein Kernbestandteil eines digitalen Zwillings – zu konstruieren.“ Besonders aufwändig und fehleranfällig sei dabei das sogenannte „reverse engineering“, ein Arbeitsschritt, in dem das Verhaltensmodell von bereits existierenden Komponenten erst rückwirkend nachgebildet wird. „Der Prozess, so ein virtuelle Inbetriebnahme-Modell zu erstellen, wird umso schneller und effizienter, je mehr die Verantwortlichen bestehende, gut gepflegte Quellen nützen können“, meint Veronika Brandstetter. 

Vision eines Baukastens – eine technische Herausforderung

Die Idealvision wäre es, Simulationsmodelle und weitere zugehörige Informationen in Form einer Bibliothek bereitzustellen, in der die Modelle der einzelnen Komponenten verwaltet würden und mit denen man zügig – wie mit Bausteinen – ein virtuelles Gesamtsystem aufbauen könnte.  „Zu vielen Systemkomponenten, insbesondere bei den eigenen Entwicklungen, gibt es bereits Bibliothekskomponenten“, meint Brandstetter. „Bei zugekauften Produkten ist es zwar noch die Ausnahme.  Ziel ist es aber, den digitalen Testzwilling als Standard im Lieferpaket zu etablieren.“ Die Herausforderung bleibt, wie man aus diesen digitalen Bausteinen – die aus vielen unterschiedlichen Quellen stammen, die in unterschiedlichem Detailierungsgrad vorliegen und die verschiede Umgebungen nützen – ein virtuelles Gesamtsystem schafft. Denn im Allgemeinen lassen sich diese digitalen Bausteine nicht unmittelbar miteinander kombinieren.

Von vielen Einzelmodellen zur Co-Simulation

Und hier kommen die Siemens-Experten ins Spiel: „Insbesondere dann, wenn die Simulationsmodelle auf unterschiedlichen, domänenspezifischen Tools aufsetzen, wird es schwierig. In unserem Forschungsprojekt haben wir uns auf eine Lösung für dieses Problem konzentriert.“, erklärt Brandstetter. „In dem Beispiel der Heckklappenmontage etwa, mussten wir drei unterschiedliche Umgebungen (Process Simulate, Amesim und PLCSIM Advanded) berücksichtigen, die das 3D-kinematische Verhalten, das elektrische Verhalten und die Steuerungssoftware simulieren bzw. emulieren.

Mit unserem im Rahmen dieses Projekts entwickelten Maya Simulation Framework, können wir nun Modelle unterschiedlicher Simulatoren kombinieren. Denn der sogenannte Maya Simulation Coordinator orchestriert die Abläufe der einzelnen Simulatoren zu einem Gesamtsystem. In der Automobilentwicklung gab es schon ähnliche Ansätze. In der Entwicklung von Fertigungsanlagen, wie bei unserem Pilotprojekt bei VW, ist das Verfahren neu.“

Pilotprojekt bei Volkswagen

Bei VW wurde mit Co-Simulation die Steuerungssoftware der Heckklappenmontage – so wie im Eingangsbeispiel – pilotiert. Zu 3D-kinematischem Verhalten und elektrischem Verhalten der drei Komponenten Sicherheitstür, Drehtisch und Fertigungsroboter existierten bereits ablauffähige Simulationsmodelle, allerdings jeweils in unterschiedlichen Simulationsumgebungen und mit disziplinspezifischen Ausprägungen. Im Maya Simulation Framework wurden sie zusammen mit der Steuerungssoftware zu einer virtuellen Heckklappenmontage zusammengesetzt und konnten diese so erfolgreich verifizieren.

Der Aufwand für die virtuelle Inbetriebnahme sinkt

Die Anwender, die Pilottester bei Volkswagen konnte dieses Beispiel überzeugen. Fast 70% sind sich sicher, dass durch die Co-Simulation der Aufwand für die virtuelle Inbetriebnahme deutlich sinken wird. Auch Torben Meyer von Volkswagen ist zufrieden: „Wir sehen in der Co-Simulation großes Potenzial die Inbetriebnahme-Zeit in unseren Fertigungsstraßen zu reduzieren."

2019-05-15

Aenne Barnard

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