Der Stoff, aus dem die Werkstücke sind
Forscher von Siemens Corporate Technology statten digitale Zwillinge mit detaillierten Materialeigenschaften aus und schaffen so ein fast perfektes Spiegelbild von Werkstücken, Werkzeugen oder ganzen Fertigungsanlagen.
Als der Materialwissenschaftler Andreas Rucki die Pumpe einschaltet, beginnen hinter der Wandverkleidung Rohre zu trompeten. Wenig später gehen sie in ein leises Rasseln über bis schließlich nur noch ein sanftes Rauschen bleibt. Die Folge des kurzlebigen Blaskonzerts: In dem Rasterelektronenmikroskop (REM) in der Mitte des Kellerraums herrscht jetzt ein Hochvakuum. Damit kann die dort fixierte Metallprobe unter die Lupe genommen werden. Genauer gesagt: Unter einen Elektronenstrahl, der das Material im Submikrometerbereich in hoher Auflösung abtastet – um Informationen für einen digitalen Zwilling des Materials zu gewinnen.
Genauigkeitshebel Materialeigenschaften
„Unsere Kunden verwenden eine komplexe Folge von Fertigungsprozessen, um Rohmaterial in Produkte mit hoher Wertschöpfung umzuwandeln. Jeder Produktionsschritt prägt dem Material dabei eine Signatur des Prozesses auf und beeinflusst so seine Eigenschaften und damit die Leistung des Produkts. Unsere Vision für den digitalen Zwilling des Fertigungsprozesses ist es daher, die Beziehung zwischen Prozess und Materialeigenschaften in den digitalen Zwilling zu integrieren – für Innovationen und eine schnellere Markteinführung. Das Konzept vom digitalen Material ist demnach eine Schlüsselkomponente unserer Vision für die digitale Fertigung“, erklärt Zvi Feuer, Leiter von Manufacturing Engineering Software bei Siemens Digital Industries.
Digitale Zwillinge sind virtuelle Abbilder der Eigenschaften und Funktionen von Bauteilen, Maschinen, selbst ganzer Produktionsanlagen. Doch fehlt dabei meist ein wichtiger Aspekt: eine differenzierte digitale Repräsentation des Werkstoffs. Dessen Eigenschaften sind jedoch extrem wichtig, denn neben den Geometrieveränderungen entscheiden letztendlich die Werkstoffeigenschaften ob ein Bauteil seine Funktion erfüllt und wann es womöglich ausgetauscht werden muss. Viele Anwendungen – seien es Roboter, Energietechnik, Fahrzeuge, Luftfahrttechnik, Werkzeugmaschinen oder Mobilgeräte – verlangen immer öfter nach innovativen Materialien, die anspruchsvolle Leistungsprofile erfüllen.
Genauer planen, schneller produzieren, Wartung verbessern
Da hilft ein um detaillierte Materialeigenschaften erweitertes 3D-Modell, das Formverhalten, Stabilität, Temperaturverteilung oder Eigenspannung abbilden kann. Ein solcher digitaler Zwilling erlaubt zudem, den Zustand einer Maschine genauer zu simulieren. Das würde die vorausschauende Wartung treffsicherer machen und, falls nötig, Schadensursachen schneller nachvollziehbar zu machen.
Dank eines besseren Materialverständnisses lassen sich Produkte genauer simulieren und dadurch schneller produzieren und ihre Wartung verbessern. Es hilft bei kleinen Produktserien, wenn möglichst wenige Prototypen hergestellt werden sollen. Es kann das Monitoring der Massenfertigung unterstützen. Und auch additive Fertigungsverfahren profitieren vom materialsmarten Zwilling, da sich beispielsweise Metalle gedruckt anders verhalten als im traditionellen Gussverfahren. Und schließlich verbessert er auch die spanende Bearbeitung – Fräsen, Drehen oder Bohren –, wenn etwa der Einfluss einer Schneide eines Fräskopfes auf die Eigenspannung eines Werkstücks abgeschätzt werden soll, um die Produktion optimal zu planen.
Wie Siemens dieses Ziel erreichen will
Rucki zeigt Bilder aus dem Mikroskop – graustufige Satellitenaufnahmen feinkörniger Landschaften mit bizarren Formen aus Partikeln, Nadeln, Rissen und Rillen. „Auch wenn es makroskopisch gut aussieht, entscheidet sich das Verhalten eines Materials oftmals an den hier sichtbaren Korngrenzen. Solche Details nutzen wir – neben den Ergebnissen anderer Methoden wie der chemischen Elementanalyse –, um das Material mit größter Genauigkeit dreidimensional zu charakterisieren. Zusammen mit den Testergebnissen aus der mechanischen und der chemischen Prüfung können wir damit einen digitalen Zwilling des Materials und seiner Eigenschaften positionsgetreu erstellen.“
„Für einen digitalen Zwilling, der für alle Lebensphasen detaillierte Angaben zu den Materialeigenschaften enthält, brauchen wir viele Daten, die wir im Labor, in Fabriken und der Fachliteratur gewinnen“, sagt Ruckis Kollege, der Materialforscher Ulrich Bast. „Aber das ist nicht genug: Wir müssen auch die dynamischen Gesetze des Materials eruieren – etwa um vorherzusagen, was passiert, wenn es geformt oder extremen Umgebungen ausgesetzt wird. Ziel ist das gläserne Produkt.“
Siemens entwickelt deshalb jetzt eine Datenbank, die all diese Daten strukturiert speichert, um sie in bestehende Zwillinge einfließen zu lassen. Dabei entwickelt das Team um Rucki und Bast nicht nur ausgefeilte Modelle, die das Werkstoffverhalten unter verschiedensten Bedingungen vorhersagen, sondern auch Modelle, die beschreiben, wie sich gewünschte Materialmerkmale herstellen lassen.
Omar Fergani, Experte für digitale Fertigung bei Siemens Digital Industries, ist an diesen Arbeiten sehr interessiert: “Die Stärke des digitalen Zwillings liegt darin, dass wir die gesamte Wertschöpfungskette unserer Kunden abdecken, von der Idee bis zur Produkt-Performance im Betrieb. Der höchst zuverlässige Zwilling mit Details, die dem Erbgut eines Materials ähneln, beruht dabei auf der Arbeit unserer Forscher.“
Handfeste Mikroanalysen
Um Materialdaten erweiterte digitale Zwillinge könnten auch in das Software Portfolio von Siemens Digital Industries integriert werden, um Produkte mit minimalem Werkstoffeinsatz zu fertigen und Produktionsanlagen effizienter zu betreiben. Dazu gehört übrigens auch die Rückverfolgbarkeit des Materials – etwa, um sicherzustellen, dass keine Rohstoffe aus Krisengebieten eingesetzt werden. Digitale Zwillinge verknüpfen die einst getrennten Bereiche der Wertschöpfungskette noch enger miteinander – zur genaueren Simulation von Werkstücken, Werkzeugen oder ganzen Fertigungsanlagen. Und wenn die Werkstoffe sich dabei auch in viele Zeilen Code verwandeln, so handfest bleibt doch ihr Ursprung: von Geduld und Raffinesse getragene Mikroanalysen, die kleinsten Proben nach allen Regeln der Kunst auf den Leib rücken.
Autor: Hubertus Breuer
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