Herzblut für digitale Zwillinge
Industrieforschung braucht Simulationsexperten mit Herzblut für digitale Zwillinge. Im Rennen um Innovationen macht ihre Leidenschaft den entscheidenden Unterschied.
Als Christoph Kiener bei den Simulationsexperten von Siemens Corporate Technology anfragt, ihm zu helfen, das Ausschütteln von Metallpulver aus einem Hohlraumlabyrinth zu simulieren, blitzt Dirk Hartmann sofort eine Lösungsidee durch den Kopf. „Ich dachte gleich an unsere Personenstromsimulation Crowd Control, mit der wir in den letzten Jahren für viele Gebäude Fluchtwegplanungen berechnet haben“, bestätigt Hartmann, der Experte für Echtzeitsimulationen ist. „Beide Aufgaben sind sich so ähnlich, dass es nahe liegt, die gleiche Mathematik und Vorgehensweise anzuwenden. Was bei den Fluchtsimulationen die Personen sind, die durch Gänge und Treppenhäuser ins Freie strömen, sind bei Kieners Ausschüttelsimulation die Pulverpartikel, die durch ein Hohlraumlabyrinth zum Ausgang rieseln.“
Berechtigte Zuversicht
Kiener, der bei Corporate Technology 3D-Druck-Innovationen vorantreibt, erinnert sich, wie erleichtert er war, dass Hartmann und dessen Kollege Meinhard Paffrath durch die Erfahrung mit Crowd Control schon nach wenigen Tage eine erste Machbarkeitsskizze vorlegen konnten. „Für mich war damit klar, dass es möglich ist, einen Reinigungsautomaten zu bauen, der das Pulver, das beim 3D-Metall-Druck in den Hohlräumen der Bauteile hängen bleibt, durch simulationsgesteuerte Dreh- und Schüttelbewegungen herausbefördert.“ Kiener sollte mit seiner Zuversicht recht behalten. Kein Jahr später hatte er nicht nur zusammen mit dem Maschinenbauer Solukon einen Prototyp des Reinigungsautomaten verwirklicht, sondern diesen auch mit großem Erfolg auf der Leitmesse für additive Fertigung Formnext 2018 vorgestellt.
Schneller startklar
„Der Weg bis zur Lösung ist natürlich deutlich kürzer, wenn man auf Vorkenntnissen aufsetzen kann“, betont Hartmann. „Wenn man bei null anfangen muss, fehlt ja nicht nur die Mathematik und die Vorgehensweise, sondern auch die Einsatzerfahrung aus vorangegangenen Anwendungen.“ „Wir waren trotzdem gefordert“, versichert Paffrath, „insbesondere bei der Simulationsgeschwindigkeit.“ Für die Berechnung der Dreh- und Schüttelbewegungen ist zwar keine Echtzeitsimulation erforderlich. Sie können in Ruhe vorab erfolgen, sollen aber keinesfalls Tage lang dauern. „Auch in diesem Fall halfen uns wertvolle Vorkenntnisse, die Lösungssuche abzukürzen“, betont Paffrath. „Die Kollegen von Siemens PLM Software haben uns mit ihren hochgenauen Partikelsimulationen aus der Simulations- und Testsuite Simcenter versorgt. Sie waren der perfekte Start, um durch gezielte Abstriche bei der Simulationsgenauigkeit rasch eine eigene Lösung entwickeln zu können, die schlank genug ist, um die erforderliche Simulationsgeschwindigkeit zu liefern.“
Gewachsene Kompetenz
Für Hartmann und Paffrath ist es nicht ungewöhnlich, dass sie bei Anfragen sofort mit der Ausarbeitung des Lösungsprinzips loslegen können. „Siemens unterhält schon sehr lange eine starke Vorfeldforschung für Simulationsinnovationen“, erklärt Virginie Maillard, die bei Corporate Technology das Technologiefeld Simulation & Digital Twin leitet. „Da stehen nicht nur 130 Experten mit viel Wissen und Erfahrung bereit, sondern auch eine reich gefüllte Schatzkiste mit ganz vielfältigen Lösungsansätzen und Werkzeugen, die selbstverständlich auch neue Entwicklungen wie virtuelle Realität oder künstliche Intelligenz einbeziehen.“ Paffrath kann daher mühelos weitere Projekterfolge auflisten. Hierzu gehört auch die virtuelle Echtzeitprognose der Innentemperatur von Elektromotoren, die Utz Wever, ein weiterer Kollege von Hartmann und Paffrath, vor drei Jahren entwickelt hat.
Virtuelle Prognosebasis
Wevers Echtzeitprognose ist die Antwort auf eine Anfrage von Siemens Large Drives Applications. Deren Forschung und Entwicklung suchte nach einer Lösung, um die Abkühlzeit, die bei großen Elektromotoren zwischen dem Aus- und Einschalten eingehalten werden muss, genau berechnen zu können, statt mit Schätzungen arbeiten zu müssen, weil die Temperatur im unzugänglichen Inneren des Motors nicht echt gemessen werden kann. Wevers Lösung stellt jetzt ein Werkzeug zur Verfügung, dass jederzeit in Echtzeit vorhersagen kann, wie die Temperatur im Motor ansteigen wird, wenn er in diesem Augenblick eingeschaltet würde. Mit dieser Information können große Motoren nun nach dem Ausschalten schneller als früher wieder eingeschaltet und damit besser ausgelastet werden.
Vorsprung Vorfeldforschung
„In diesem Fall konnten wir unter anderem einen Verfahrensansatz aus dem noch jungen Forschungsgebiet der Unsicherheitsquantifizierung nutzen, mit dem wir uns schon sehr früh in unserer eigenen Vorfeldforschung auseinandergesetzt haben“, erklärt Wever. „Hier hatten wir bereits vor mehreren Jahren ein Optimierungswerkzeug entwickelt, mit dem Produkte so ausgelegt werden können, dass sie gegenüber Fertigungs- oder Messtoleranzen robust sind. Der Verfahrensansatz, der bei diesem Werkzeug zum Einsatz kommt, berücksichtigt systematisch alle möglichen Fehler und deren Auswirkung auf das Endergebnis und erlaubt es so, mit Unsicherheiten umzugehen. Und das war genau der Ansatz, der auch beim Elektromotor nötig war, um eine echtzeitfähige virtuelle Temperaturprognose realisieren zu können.“
Industrietaugliche Lösungen
„Ohne unsere eigene Vorfeldforschung hätten wir uns erst einmal umschauen müssen, wo wir in der akademischen Forschung Experten finden, die uns mit dem nötigen Wissen versorgen können“, betont Maillard. „Und das hätte nicht nur viel Zeit gekostet, sondern auch noch eine ganze Reihe anderer Probleme aufgeworfen. Im Unterschied zu akademischen Forschungseinrichtungen sind wir mit Industrieanforderungen vertraut und haben umfangreiche Erfahrung mit den Geschäftsfeldern von Siemens. Dadurch können wir schnell industrietaugliche Lösungen und nicht nur Konzepte liefern.“
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