Baukastenprinzip für digitale Zwillinge

Virtuelle Inbetriebnahme modularer Anlagen

Individuelle Produkte werden für Kunden immer wichtiger. Die Fabrik der Zukunft muss deshalb flexibel sein und auf die individuellen Wünsche ihrer Kunden eingehen können. Aus diesem Grund werden Anlagen immer modularer, das heißt, sie sind aus mehreren Einzelkomponenten aufgebaut, die wie die Teile eines Baukastens immer wieder anders zusammengesetzt werden können.  Nach jedem Umbau muss allerdings mit einem Inbetriebnahme-Test verifiziert werden, dass die Anlage korrekt arbeitet. Um Zeit zu sparen, könnte sich hierbei die virtuelle Inbetriebnahme nach dem Baukastenprinzip zum Standard entwickeln. Die Crux dabei: Ohne neue Standards, an die sich alle Beteiligten halten, wird es nicht gehen.

 „Modulare Anlagen sind die Zukunft der Produktion, denn sie können sehr schnell umgebaut und angepasst werden “, erklärt Tim Schenk, Simulationsexperte von Siemens Corporate Technology. „Wenn dann aber für lange Inbetriebnahme-Tests die Produktion unterbrochen werden muss, ist am Ende Nichts gewonnen. Nur mit einer virtuellen Inbetriebnahme kann es gelingen, die Vorteile der Modularität voll auszuschöpfen!“

Bei einer virtuellen Inbetriebnahme werden die Tests nicht auf der realen Anlage, sondern auf ihrem digitalen Zwilling durchgeführt. Bei einer Anlage, die öfter umkonfiguriert wird, kann so der neue Aufbau bereits virtuell getestet werden, während die Produktion auf der realen Anlage weiterläuft. Unbedingte Voraussetzung hierfür: Es muss möglich sein, den digitalen Zwilling jeder möglichen Anlagenkonfiguration schnell zu erstellen.  An diesem Punkt setzt die Entwicklungsarbeit der Corporate Technology an: „Wir haben im ENPRO-Förderprojekt ORCA zusammen mit  Kollegen von Siemens Digital Industries eine Systematik entwickelt, wie wir genauso modular wie die Anlagen selbst, die digitalen Zwillinge erzeugen und testen können“, sagt Andrés Botero, ORCA-Projektleiter bei Siemens Corporate Technology.

Demonstrator in München Perlach

Im Simulationslabor in München Perlach veranschaulicht eine kleine Demonstrationsanlage den Ansatz. Flüssigkeiten aus drei Tanks werden im gewünschten Verhältnis vermischt, verrührt und/oder erwärmt oder gekühlt und in Flaschen abfüllt. „Eine kleine, aber typische modulare Anlage“, erklärt Botero. „Die drei Module, Mischmodul, Reaktormodul und Abfüllmodul sind Produkte unterschiedlicher Hersteller. Sie lassen sich auf der Ebene der Automatisierung miteinander kombinieren, weil sie alle einem eindeutig definiertem Schnittstellen-Standard (MTP) folgen.“

 

Der Schnittstellenstandard MTP (Module Type Package)

Einheitliche Schnittstellenstandards sind die Voraussetzung aller modularer Architekturen. Vorstellen kann man sich das wie Legosteine, die alle miteinander verbaut werden können, weil alle die gleichen Verbindungsnoppen haben.  Um modulare Produktionsanlagen möglich zu machen, treibt Siemens zusammen mit namhaften Partnern seit einigen Jahren die Entwicklung des Schnittstellenstandards MTP (Module Type Package). Ein MTP definiert alle relevanten Informationen, die für den Betrieb eines Moduls nötig sind: die Benutzerschnittstelle des Moduls (Modul HMI), die Daten, die ausgetauscht werden, und vor allem die automatisierungstechnischen Funktionen.

Auch wenn der MTP-Standard bereits sehr weit fortgeschritten ist, die Arbeit mit den Partnern geht weiter: „Eine virtuelle Inbetriebnahme etwa ist nur möglich, wenn zu jedem Modul auch ein digitaler Zwilling existiert. Idealerweise liefert der Modulhersteller diesen zusammen mit seinem Modul aus. Wir arbeiten daran, dass das zum Standard wird.“, sagt Schenk. „Denn es ist im Allgemeinen ziemlich aufwendig bis unmöglich, den digitalen Zwilling eines fertigen Moduls eines externen Lieferanten zu erstellen.“

Ein Modul – logisch eine Blackbox

Unmöglich deshalb, weil ein solches Modul, wenn man es von einem externen Lieferanten erwirbt, eine Art Blackbox ist: Die Spezifikation beschreibt die Variablen und ihre Bedeutung und definiert die Funktionen, die das Modul bietet. Nicht festgelegt, nicht sichtbar und deshalb auch nicht exakt nachbildbar ist es, wie das Modul intern realisiert wurde.

Der Inbetriebnahme-Test einer modularen Anlage validiert, dass die Orchestrierung und Parametrierung der Funktionen der einzelnen Module so gewählt wurden, dass das gewünschte Produktionsergebnis entsteht. Es ist leicht vorstellbar, dass, auch wenn jedes einzelne Modul für sich korrekt arbeitet, das Zusammenspiel der Module nicht funktioniert, etwa weil falsch orchestriert wurde. Virtuelle Inbetriebnahme-Tests können solche Fehler nur dann zuverlässig finden, wenn die digitalen Zwillinge der Module sich exakt so verhalten wie die realen Module. 

Ein Zwilling aus virtuellen Bausteinen

Wenn diese Hürde genommen wurde und es zu allen Einzelmodulen digitale Zwillinge gibt, dann kann, dank Baukastenprinzip, mit einer geeigneten Co-Simulationsumgebung der digitale Zwilling jeglicher Anlagenkonfiguration erzeugt werden, und das fast ohne zusätzlichen Aufwand.  Die Methodik dazu haben die Experten von Corporate Technology entwickelt und in einer derzeit noch prototypischen Umgebung realisiert, die auf der Simulationsplattform SIMIT aufsetzt.

„Wir können auf diese Weise virtuelle Inbetriebnahme-Tests durchführen und haben so den Puzzlestein geschaffen, der uns noch gefehlt hat, um modulare Anlagen effizient umrüsten und wieder in Betrieb nehmen zu können. Unsere Demonstrator-Anlage haben wir im Frühling 2020 aufgebaut und mussten sie zwangsläufig selbst virtuell in Betrieb nehmen“, sagt Botero. „Zu dieser Zeit durfte niemand wegen der Covid-19-Beschränkungen in unser Simulationslabor. Weil wir aber auch vom Homeoffice aus auf unsere Simulatoren zugreifen können, konnten wir sehr effektiv weiterarbeiten.“ 

Aenne Barnard  - September 2020

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