Virtuell ins neue Normal
Services, die digital Nähe schaffen
Abstand halten, direkten Kontakt und Reisen möglichst vermeiden – die Regeln des neuen Normals werden uns wohl noch einige Zeit begleiten. Virtuelle (VR) und erweiterte Realitäten (AR) machen es dennoch möglich, zusammenzukommen, fast so nah, als sei man physisch vor Ort. Ausgewählte Beispiele zeigen, wie Geschäftspartner und Kollegen auch virtuell – und das nicht nur während einer Pandemie – zusammenarbeiten können
Bislang war es für die Abnahme von großen Anlagen, etwa einer Schaltanlage, üblich, dass eine ganze Delegation des Kunden für mehrere Tage in die Fabrik anreist – zurzeit unmöglich, gleichzeitig teuer und darüber hinaus klimaschädlich. Der sogenannte Remote Factory Acceptance Test (rFAT) – ein Serviceangebot von Siemens Smart Infrastructure und der Forschungsabteilung Technology – ist unser erstes Beispiel für eine örtlich getrennte Realität. Er ermöglicht jetzt die Abnahme in der Fabrik, ohne dass der Kunde persönlich vor Ort anwesend ist.
Während des Verfahrens ist nur ein Servicetechniker, sowie ein Mediamoderator vor Ort im Werk, der Kunde ist live von seinem Homeoffice oder einem Siemens-Vertriebsbüro zugeschaltet.
Gemeinsam Schritt für Schritt durchs Testprotokoll
Bei der Fernabnahme geht der Mitarbeiter im Schaltanlagenwerk das Testprotokoll mit dem Kunden Schritt für Schritt durch. Zusätzlich zur Kamera, die er am Körper über der Schutzkleidung trägt und jener, die an seinem Helm angebracht ist, nimmt eine Dome-Kamera das Geschehen aus der Vogelperspektive auf. Ein Mediamoderator führt Regie, schaltet zwischen den Aufnahmen um, kann die Kameras steuern, von Großaufnahme in Details zoomen und auch das Abnahmedokument einblenden. Gemeinsam wird dieses Zeile für Zeile durchgearbeitet, wie bei einer Abnahme vor Ort. Die Unterlagen werden dem Kunden nach gemeinsamer Verabschiedung zugesendet. Dieser Service wird derzeit bereits im Schaltwerk Frankfurt sowie in den Werken in Gebze (Türkei), Leipzig, Goa (Indien) und Queretaro (Mexico) angeboten.
Fernbetreuung – nicht nur zurzeit interessant
„Im Falle von rFAT bestand die Herausforderung unter anderem darin, die Live-Bilder verschiedener Kameras in eine Bildkomposition zu integrieren, um dem Kunden einen aussagekräftigen Gesamteindruck zu geben“, berichtet Anja Simon, Expertin für virtuelle Services bei Siemens Technology. “Es geht uns darum, dass die Fernbetreuung global und ohne Reisetätigkeit möglich wird. Zusätzlich kann Experten- und Domänenwissen gesichert und zielgerichteter eingesetzt werden. Ein Angebot also, von dem die Kunden nicht nur in der aktuellen Zeit profitieren. Tatsächlich haben wir diesen Service auch schon deutlich zuvor zusammen mit dem Innovationsteam für die Siemens-Mittelspannungsanlagen entwickelt.“
Kunden äußern sich sehr zufrieden: „Von La Hague aus standen wir live in Kontakt mit einem Testingenieur in Frankfurt und sind alle mechanischen und elektrischen Tests durchgegangen. Zudem konnten wir den Testingenieur bitten, ein paar zusätzliche Aktionen vorzuführen, die nicht Teil unseres Testprotokolls waren“, berichtet Michael van der Spiegel, leitender Ingenieur bei der niederländischen Stedin-Gruppe.
Der Experte immer vor Ort
Auch Service-Techniker, Operatoren oder Montagearbeiter können von einer erweiterten, digitalen Fernunterstützung profitieren, wie in unserem zweiten Beispiel: Über eine Kamera ihres Smartphones oder Tablets können diese live ein Video in HD-Qualität übertragen und dadurch Experten virtuell einbinden als seien diese mit ihnen an Ort und Stelle. Möglich macht das Circuit Expert, eine spezielle Erweiterung der bekannten Kommunikations- und Kollaborationsplattform. Circuit Expert bietet einige AR-Funktionen an wie beispielsweise einen „Remote Pointer“, eine Art virtueller Zeigestab. Damit können im geteilten Video relevante Punkte markiert werden. Auch gemeinsame Anmerkungen wie beispielsweise Pfeile, Kreise oder Text auf einem aus dem Video extrahierten Bild sind möglich. Auf diese Weise kann der Experte dem Techniker vor Ort konkret und an der richtigen Stelle Hinweise geben, wie er eine bestimmte Aufgabe am besten erledigt. Eine spezielle Version der Lösung läuft sogar auf einer Datenbrille (der Realwear HMT-1). Sie hat den Vorteil, dass der Techniker beide Hände frei hat zum Arbeiten.
"Circuit Expert wurde im Rahmen des Innovationsprogramms Service Ehancing Technology, kurz SET, bei uns entwickelt“, erzählt Anja Simon. „Mittlerweile nutzen bereits über 2000 Siemens-Kollegen und Partner Circuit Expert erfolgreich im Feld und bei unseren Kunden. Aktuell wird zudem eine Migration zu Microsoft Teams vorbereitet“.
Virtual Reality nutzen: Lerninhalte virtuell konfigurieren und schulen
In unserem dritten Beispiel geht es um Schulung: Sich mit mehreren Menschen gemeinsam in einem Raum zu bewegen, ohne Abstand zu halten, Dinge greifen oder als erfahrener Experte den Teilnehmern eines Trainings sogar im übertragenen Sinne zur Hand gehen – auch das ist aktuell undenkbar, in virtuellen Welten schon.
„Zusammen mit den Kollegen vom Customer Service von Siemens Digital Industries haben wir eine Plattform für eine Virtual und Augmented Reality Arena – V@RENA – entwickelt. V@RENA macht es möglich, mittels VR Inhalte die Trainings für Einzel- oder Mehrpersonenschulungen zu erstellen sowie gleichzeitig aus diesen Inhalten AR-Anleitungen für Tätigkeiten vor Ort zu vermitteln – und das direkt vom Experten mit Domänenwissen, ohne zusätzlichen Programmieraufwand einer speziellen Agentur“, sagt A.Simon.
„Konkrete Arbeitsschritte, wie beispielsweise der Tausch eines Lagers an einem großen Elektromotor, lassen sich so nicht nur besser erklären, sondern werden durch die interaktive Lernumgebung in VR am digitalen Zwilling tatsächlich erfahrbar.“ Zuvor hinterlegte Lernmaterialien wie Bilder, Videos, Pläne und Handbücher, können durch einfaches Hineinziehen am Bildschirm („drag and drop“) an den passenden Punkten im Raum platziert werden. Relevante Informationen werden also virtuell verfügbar gemacht. Neben den Einzeltrainings können sich auch mehrere Personen – sichtbar als sogenannte Avatare – treffen, um gemeinsam ein Training zu absolvieren. Das ist dann fast so schön, wie ein echtes reales Training mit Kollegen.
Sandra Maria Wild Oktober 2020