Eine Nation als Labor
Wie sieht die Zukunft der Städte aus? Vermutlich so wie in Singapur. Dort entwickelt der Siemens Digitalization Hub mit der Regierung des Stadtstaates Smart-City-Konzepte, die weltweit Vorbild sein werden.
Smart City: Ein Begriff, der in Mode ist und von Städten weltweit geradezu inflationär verwendet wird – nicht immer zu Recht. Doch wenn die Bezeichnung Smart City auf eine Stadt zutrifft, dann auf Singapur. Der Inselstaat treibt die Digitalisierung mit Vehemenz voran, um die Herausforderungen der Infrastruktur zu bewältigen. Auf nur 719 Quadratkilometern leben etwa 5,6 Millionen Einwohner, vor den Toren liegt der größte Containerhafen der Welt; viele internationale Unternehmen haben hier regionale Hauptquartiere, entsprechend hoch ist das Verkehrsaufkommen.
Thinktank für Digitalisierung
Lösungen, die in Singapur funktionieren, sind Vorbild für viele andere Städte auf der Welt. Für Siemens ist die Stadt deshalb ein ideales Labor, um Lösungen für Smart City, das Internet der Dinge und Industrie 4.0 zu entwickeln und zu testen. Schon seit 1908 ist das Unternehmen in Singapur präsent, seit den 1970ern auch mit Fertigung. Am 11. Juli 2017 folgte der nächste Meilenstein: der Start des Siemens Digitalization Hub. Premierminister Lee Hsien Loong war dazu eigens nach München gereist, um mit dem Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser in einer Live-Übertragung den Startschuss für die Einrichtung zu geben. Der Digitalization Hub fasst die Expertise aus allen Geschäftsbereichen zusammen und deckt die Sektoren Urbane Infrastrukturen, Industrie, Gesundheitsversorgung und Energie ab. 130 Digitalisierungsexperten arbeiten dort; in den nächsten fünf Jahren soll diese Zahl auf 300 steigen.
Reale Fragestellungen
Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Urban MindSphere Application Center. Dort entwickeln erfahrene Ingenieure zusammen mit jungen und ambitionierten Daten- und Softwareexperten Anwendungen mit MindSphere, dem universellen cloudbasierten Betriebssystem von Siemens für Industrie 4.0 und das Internet der Dinge.
36 MindSphere Application Center von Austin bis Perth, von Oslo bis São Paulo gibt es derzeit weltweit, doch Singapur ragt heraus. Wo andere Center an Geschäftsbereiche angebunden sind und vor allem Anwendungsentwicklung für die Technologiesparten und bestehenden Produkte ihrer Kunden betreiben, ist Singapur der erste Hub, der regional agiert und sich vorwiegend mit urbanen Infrastrukturen befasst. Wobei auch der Thinktank meist von realen Fragestellungen der Kunden ausgeht. Wenn möglich werden sie mit bestehenden Siemens-Produkten oder mit Ideen anderer Siemens-Center gelöst. „Man muss das Rad nicht immer neu erfinden“, sagt Steffen Endler, „aber wo es bei dem, was heute verfügbar ist oder benötigt wird, Lücken gibt, dort kommen wir ins Spiel.“
Endler ist schon seit über zehn Jahren in Singapur und hat den Digitalization Hub aufgebaut, den er nun, wie auch das Urban MindSphere Application Center, leitet. „Es gibt in Singapur viel Verständnis für Digitalisierungsthemen, wir können viel voneinander lernen – die perfekte Umgebung.“ Zahlreiche Projekte hat sein Team in der Pipeline, eines spannender als das andere. Hier drei Beispiele:
Umsteigen ins Robo-Shuttle
Das Verkehrsministerium von Singapur plant, bis 2023 drei Distrikte mit autonomen Fahrzeugen auszustatten. Das Projekt konzentriert sich auf den öffentlichen Nahverkehr und hat detaillierte Konzepte für Strecken und Fahrpläne, die mit fahrerlosen Bussen und Shuttles befahren werden sollen. Damit wird dem Bedürfnis vieler Bürgerinnen und Bürger nach individuellen Fahrten auf der ersten und letzten Meile eines Weges Rechnung getragen. „Diese Pläne sind eine große Herausforderung, aber umsetzbar“, findet Steffen Endler. „Während andere Städte nur davon reden, macht Singapur Nägel mit Köpfen.“
Endler und seine Kollegen arbeiten mit der singapurischen Universität Nanyang Technological University (NTU) im ersten Autonomous Vehicle (AV)-Testzentrum des Landes zusammen, um vorzuführen, wie diese Konzepte Wirklichkeit werden können. Das von der Land Transport Authority (LTA), NTU und dem Infrastrukturplaner JTC Corporation eingerichtete Testzentrum zielt darauf ab, alle Fahrzeugtechnologien und -infrastrukturen vor dem großtechnischen Einsatz zu validieren. Es bildet die reale Umgebung mit Kreuzungen, Hängen, Haltebuchten für Busse, Hindernissen und sogar künstlichem Regen nach.
Das Verkehrsministerium von Singapur plant, bis 2023 drei Distrikte mit autonomen Fahrzeugen auszustatten.
Intelligente Infrastruktur spielt eine große Rolle für einen sicheren und harmonisierten Betrieb von Flotten autonomer Fahrzeuge. Sensoren an den Straßen, intelligente Verkehrssteuerungen und sogenannte Vehicle-to-Everything-Technologien müssen eingesetzt werden und Hand in Hand arbeiten, um den Verkehr reibungslos zu koordinieren. Sensordatenfusion, Verkehrsmustersimulationen und Nachfragemanagement sind nur einige Bereiche, in denen maschinelles Lernen eine Rolle spielt. In all diesen Bereichen stellt Siemens seine Expertise im Testcenter zur Verfügung.
Intelligenz für Gebäude
Bessere und intelligentere Nutzung von Gebäudedaten zur Optimierung der Gebäudeleistung bei gleichzeitiger Verbesserung von Umweltfreundlichkeit und Komfort – das ist ein weiteres Projekt, das der Hub in Singapur vorantreibt. Daten zu Raumluftqualität und Wetter, Nutzungsmuster und Daten des Gebäudes werden analysiert, um Verbesserungspotenziale zu identifizieren und proaktiv Maßnahmen zu ergreifen. Das Siemens-Team arbeitet mit einer globalen Hotelkette und einer ortsansässigen Universität zusammen, um die Lösungen zu entwickeln.
Unterirdische Autobahnen sichern
Siemens hat von der LTA den Auftrag erhalten, den Nord-Süd-Korridor von Singapur mit einem integrierten Verkehrs- und Leitsystem auszustatten. Der 21,5 Kilometer lange Korridor, der 12,5 Kilometer unterirdische Tunnel und 9 Kilometer Viadukt umfasst, ist Singapurs erster Verkehrskorridor, der die Stadtteile der nördlichen Region mit dem Stadtzentrum verbindet. Der Digitalization Hub hat die weltweit erste integrierte Highway-und-Tunnel-Management-Suite entwickelt; sie gewährleistet ein hohes Maß an Sicherheit, Systemzuverlässigkeit und Nachhaltigkeit für Straßenbenutzer und Tunnelbetreiber. Diese Software wird verschiedene Untersysteme der Verkehrssteuerung einbeziehen, wie zum Beispiel Closed-Circuit-TV-Kameras, automatische Ereigniserkennung, Straßensperrvorrichtungen und dynamische Schilder, die Siemens ebenfalls anbietet.
Alle genannten Projekte sind noch im Entwicklungsstadium. Dass die Visionen wahr werden, daran lässt Siemens-CEO Joe Kaeser keinen Zweifel. „Singapur ist bekannt für Exzellenz, langfristige Planung und vorausschauendes Denken. Mit MindSphere von Siemens als IoT-Betriebssystem hat Singapur die einzigartige Chance, das führende voll integrierte städtische Ökosystem der Welt zu werden.“
23.07.2018
Bernd Müller
Bildquellen: von oben: 4. and 5. picture Bloomberg/gettyimages
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