Ohne digitalen Zwilling läuft fast Nichts in der Digitalisierung. Er ist ein kraftvolles Werkzeug für die Arbeit mit komplexen, intelligenten Systemen. Seine wesentliche Stärke besteht darin, dass er sogar komplette Fertigungsanlagen, Gebäudekomplexe oder Fabriken in ihrer ganzen Komplexität digital repräsentieren und ihr Verhalten simulieren kann. Als Simulationsmodell ermöglicht der digitale Zwilling zum Beispiel, neue Ideen unter verschiedenen Randbedingungen virtuell durchzuspielen, bevor sie in die Realität umgesetzt werden. Oder das Systemverhalten vergangener Situationen noch einmal zu betrachten und eventuelle Maßnahmen zu testen. Das macht den digitalen Zwilling zu einer ideale Benutzerschnittstelle, nicht nur für die Bedienung des Systems, sondern auch für Analysen und Konzeptionen.
Für Stromnetze beispielsweise gibt es elektrische digitale Zwillinge, die alle Mechanismen des Netzes abbilden – von Erzeugung über Verteilung bis hin zum Verbrauch elektrischer Energie. Netzbetreiber nutzen sie heute zum Beispiel, um Szenarien für künftige Anforderungen an das Stromnetz durchzuspielen. In die Zukunft gedacht, könnten diese digitalen Zwillinge zu einem virtuellen Raum werden, in dem sich die Akteure, oder besser ihre Avatare, treffen. Sie könnten dort ihre Transaktionen planen und abwickeln und dabei volle Transparenz über deren Auswirkungen auf das Netz haben.
Gute UX – nicht einfacher, sondern erfahrbarer
Damit Menschen und digitale Zwillinge gemeinsam ihre Potenziale ausschöpfen können, dürfen die Menschen dem mächtigen Werkzeug nicht ohnmächtig gegenüberstehen, trotz der riesigen Fülle an Informationen, die in ihm steckt. „Menschen frustriert die Arbeit mit einem komplexen System, wenn sie sich bevormundet und gleichzeitig überfordert fühlen,“ sagt Axel Platz, Designer bei Technology. „Nur wenn der Mensch die Arbeit mit dem den digitalen Zwilling beherrscht, im Sinn des englischen ‚mastering‘, und beide sich gegenseitig ergänzen, werden sie bestmögliche Ergebnisse erreichen.“
Der Schüssel dafür liegt in guter User Experience. Visualisierungen spielen dabei die wichtigste Rolle, meint Axel Platz: „Das Visuelle ist der stärkste Kanal in das menschliche Gehirn.“ Es geht dabei explizit nicht um vereinfachte, übersichtliche Darstellungen, sondern ganz im Gegenteil darum, das System in all seiner Komplexität und ohne etwas zu verbergen so zu präsentieren, dass der Mensch sich darin gut zurechtfindet. „Der Mensch braucht nicht einfach eine Reduzierung der Dinge, die er sieht, sondern er braucht Transparenz über die Komplexität, damit er versteht was er sieht “, sagt Axel Platz, „denken Sie an Computerspiele. Da sind die Dinge nicht vereinfacht, sondern reicher, erfahrbarer.“
Wie diese Visualisierungen konkret aussehen, hängt von der jeweiligen Aufgabe ab. Im Fokus steht das Bedürfnis der Menschen, dass die Dinge, mit denen sie umgehen, für sie eine Bedeutung haben. Außerdem bedingt die Art, wie eine Sache visualisiert wird, auch wie die Anwender diese auffassen. Es geht also nicht nur darum, den digitalen Zwilling abzubilden, sondern darum zu antizipieren, wie ein auf bestimmte Weise dargestellter Sachverhalt gesehen werden kann.
User Experience nähert sich also etwas Unscharfem, sie ist abhängig von der Situation, dem Kontext, ja von den Menschen selbst. Gute, sinnhafte UX muss verstehen, welche Dinge für den Mensch in seiner Arbeitssituation eine Bedeutung haben und worin genau diese besteht.
Gute UX gibt den Dingen die richtige Bedeutung
Deutlich wird dies etwa am Lackiererei-Projekt, das Axel Platz begleitet hat. Es ging um Aufhängung von Karosserien in der Lackiererei eines Automobilwerks.
Für die Lackierroboter ist die korrekte Positionierung kritisch, und man suchte eine Lösung, die frühzeitig sich andeutende Abweichungen so anzeigt, dass die Belegschaft sehen kann, ob Handlungsbedarf besteht. „Das Paradoxe war, dass es umfassende Videoaufzeichnungen aus der Produktion und unzählige Auswertungen in Form von Diagrammen gab“, erinnert sich Axel Platz, „aber die Anwender sagten ‚wir sehen nichts‘.“ Der User Experience Ansatz, zuerst die Tätigkeit an sich zu verstehen und dann eine entsprechend bedeutungsvolle Form zu finden, brachte Abhilfe. Es stellte sich heraus, dass die Beschäftigten die Fehler aufgrund ihrer Erfahrung in einer Art Detektivarbeit fanden, sie untersuchten bestimmte Kombinationen von Einflussgrößen in der digitalen Simulation. Die bedeutungsvolle Form bestand darin, diese Detektivarbeit so umzusetzen, dass auf einen Blick ersichtlich ist, welche Kombinationen sich ähnlich bewegen. Das sind die Indizien, auf deren Grundlage die Beschäftigten informiert die Fehlerursache benennen können. „Genau darum geht es“, sagt Axel Platz, „gute UX hilft Menschen, souverän zu handeln.“
Eine Einladung in die digitale Welt
Der Art und Weise, wie gute UX für eine konkrete Anwendung umgesetzt wird, sind kaum Grenzen gesetzt. Künftig werden digitale Zwillinge den Menschen nicht mehr zwingend in Form von technischen Darstellungen wie CAD-Zeichnungen, Diagrammen oder Zahlen entgegentreten. Der Mensch wird vielmehr in eine digitale Welt eingeladen werden im Sinne eines ‚Internet to step in‘. Die Arbeit wird sich vielleicht eher anfühlen wie ein Computerspiel. Wie auch immer wir in Zukunft mit den virtuellen Ebenbildern umgehen werden, wichtig ist der Purpose, die Sinnhaftigkeit, die wir durch gute UX erfahren. Fühlen sich Menschen souverän im Umgang mit dem komplexen System, können sie es gewinnbringend nutzen. Fühlen sie sich unsicher, vermeiden sie zu handeln. Hierin zeigt sich auch die Wichtigkeit guter UX für ein Unternehmen. Denn dieses Gefühl wird darüber entscheiden, wie stark eine Maschine, ein System, oder eine ganze Fabrik zum Unternehmenserfolg bei uns und unseren Kunden beiträgt.
Christine Rüth, Juli 2022