Dynamische Systeme in Echtzeit anpassen
Wissensbasierte Logikprogramme steuern Verkehrsleitsysteme, Produktionsanlagen, Zuglogistik und mehr
Wissensbasierte Logiksysteme helfen, optimierte Konfigurationen für Schaltanlagen oder Eisenbahnstellwerke zu finden. Zur Steuerung hochdynamischer Bereiche in Echtzeit – wie Straßenverkehr oder Kommunikationsnetzwerke – wurden sie bislang jedoch nicht eingesetzt. Das Ende 2020 abgeschlossene Forschungsprojekt ‚DynaCon‘, an dem Siemens beteiligt war, hat jetzt Lösungen gefunden, die nicht nur praktikabel sind, sondern auch schneller und verlässlicher als andere KI-Methoden.
Der Straßenverkehr von morgen ist vernetzt: Ampeln, Schilderbrücken, Busse, Bahnen und mitunter bereits autonom fahrende Elektroautos – sie alle werden eifrig kommunizieren, um die schnellste Route von A nach B zu ermitteln, den Sicherheitsabstand zu wahren, Staus zu vermeiden und flexibel auf Unfälle oder Baustellen zu reagieren. Voraussetzung ist indes, dass all die Kameras in Autos oder an Kreuzungen, elektromagnetische Sensoren im Straßenbelag und Sendeeinheiten in Fahrzeugen fortwährend Daten übermitteln. Diese müssen umgehend ausgewertet und auf die Verkehrslage angewandt werden.
Doch wie lässt sich Verkehrsmanagement in Echtzeit erreichen? Dann, wenn Verkehrsleitzentralen in den kommenden Jahren verstärkt autonom agieren beginnen. Dafür braucht es Intelligenz – künstliche Intelligenz. Da gibt es mehrere Spielarten: maschinelles Lernen etwa, das, je mehr es mit Daten gefüttert wird, desto besser Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennt. Eine andere Variante sind Simulationsmodelle, die basierend auf empirischen Daten Vorhersagen erlauben.
Rekonfiguration in Echtzeit
Doch wenn es darum geht, für komplexe Systeme so schnell wie möglich ein Optimum zu erreichen – wie einen entspannten Verkehrsfluss –, versprechen wissensbasierte Logiksysteme, am schnellsten zu einer Lösung zu kommen. Wie? Sie wenden bereichsspezifische Daten und Regeln an, um im Handumdrehen umsetzbare Lösungen zu finden. In der Industrie wird dieser Ansatz seit über zwanzig Jahren bereits bei nicht zeitkritischen Ansätzen verwendet, etwa wenn es darum geht, für neue Telefonanlagen oder Eisenbahnstellwerke Herstellungskosten sparende Konfigurationen zu finden. Ähnlich verhält es sich beim Umbau von Produktionsanlagen, die im Laufe ihres Einsatzes immer wieder neu angepasst werden müssen.
Was bislang jedoch fehlte, ist die Option, flexible dynamische Systeme in Echtzeit mithilfe wissensbasierter Logiksysteme zu steuern. Dem hatte sich über drei Jahre bis Ende 2020 das Forschungsprojekt DynaCon („Dynamic knowledge-based (re)configuration of cyber-physical systems“) verschrieben, das unter der Leitung der Universität Klagenfurt fünf weitere Partner aus Industrie und akademischer Forschung vereinte – darunter auch die Siemens AG.
Reduktion der Entwicklungs-und Wartungskosten
Ziel des Projekts war es, Datenströme zur Steuerung hochdynamischer Systeme wie Verkehr, Kommunikationsnetzwerke oder Bahnlogistik ohne nennenswerte Zeitverzögerung einzusetzen. Weil sie alle über vernetzte mechanische wie elektronische Komponenten verfügen, die sich digital steuern lassen, werden sie auch ‚cyber-physikalische Systeme‘ genannt. „Die unterliegen stetiger Rekonfiguration, um ihr Gesamtverhalten zu optimieren“, sagt Gerhard Friedrich vom Institut für Artificial Intelligence und Cybersecurity an der Universität Klagenfurt.
Wie funktioniert nun so ein wissensbasiertes logisches Steuersystem? Im ersten Schritt bereitet das DynaCon-Team zunächst das Wissen zu einer bestimmten Anlage oder einem System auf, indem sie es als logische Aussagen formuliert, die in einer Datenbank gespeichert werden. Das reicht von schlichten Aussagen wie jener, dass, zeigt eine Ampel an einer Kreuzung Grün, die Ampel für den kreuzenden Verkehr auf Rot stehen muss, bis hin zu Formeln für Verkehrsdichte, die ab einem bestimmten Schwellenwert zu einer veränderten Ampeltaktung führen.
Detaillierte Systemkenntnis ist nötig
Dabei ist für die Lösungsfindung jeder einzelne Schritt wichtig, denn jede Entscheidung für eine Option schließt andere aus. So schränkt die Wahl einer bestimmten Pkw-Karosserie auf einer Fertigungsstraße ein, welche weiteren Teile man montieren kann, seien es Stoßstange, Kühlergrill oder Windschutzscheibe. „Um eine solche Steuerung umzusetzen, braucht es dann detaillierte Systemkenntnisse“, so Andreas Falkner von der Siemens-Forschungsabteilung Technology. „Gleichzeitig sind die eingesetzten logischen Regeln meist ebenso auf andere Bereiche anwendbar, es ändern sich nur die Variablen.“
Die im Rahmen von DynaCon entwickelten Algorithmen und Programme sind für Probeläufe bereits mehrfach eingesetzt worden: für die Steuerung der Kommunikationsnetzwerke eines Internet-Service-Anbieters; die Logistik des Güterzugverkehrs; für Stromverteilung – und den eben auch den Stadtverkehr. Die jüngste Weiterentwicklung der Steuerungstechnologie ist dabei nicht nur deutlich schneller als bisherige Lösungen, sie führt auch zu höherer Lösungsqualität sowie einer Reduktion der Entwicklungs- und Wartungskosten. Freilich, wenn alles Tag für Tag nach vorgefassten Plänen verliefe, bräuchte es diese blitzschnellen Anpassungen nicht. Aber das ist eben nur selten der Fall.
Dynacon nützt schlaues Recycling
Wie aber ist es dem DynaCon-Team gelungen, wissensbasierte Programme so anzulegen, dass sie dynamische Systeme in Echtzeit aufgrund einer Vielzahl von Datenströmen steuern? Leistungsfähigere Hardware allein reicht nicht aus. Effizienz hilft zusätzlich: So zeichnet sich die blitzschnelle Ermittlung von Lösungen dadurch aus, dass nur jene Teile der Wissensbank genutzt werden, die momentan tatsächlich gebraucht werden. Wird auf einer Fertigungsstraße gerade ein Sportwagen zusammengebaut, interessiert alles nicht, was für einen Lieferwagen wichtig ist. Auch werden unter den Umweltbedingungen ständig die relevanten herausgefiltert – so ist für den Verkehr eine regennasse Fahrbahn relevant, aber nicht eine einsame Wolke, die an der Sonne vorüberzieht. DynaCon nützt außerdem eine Art schlaues Recycling: Ist einmal eine neue situationsgerechte Lösung gefunden, wird diese verallgemeinert und wiederum in die Wissensdatenbank eingefügt, so dass sie im Falle ähnlicher Problemsituationen abgerufen werden kann.
Problemlos in verschiedene Leitsysteme einspielbar
Nach der Beendigung des Forschungsprojekts kann das DynaCon-Team nicht nur auf Patenteinreichungen und Erfindungsmeldungen verweisen, die innovativen Steuerprogramme sollen jetzt in neuen Pilotprojekten umgesetzt werden. Und das sollte kein großer Aufwand sein: „Das Programm“, so Falkner, „lässt sich ohne Schwierigkeiten in verschiedenste Leitsysteme einspielen.“
Christian Lettner, Hubertus Breuer, Juni 2021
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