Automatisierung automatisieren

Bei Siemens Corporate Technology in Princeton, New Jersey, und Berkeley arbeiten Wissenschaftler und Forscher an der Zukunft der Robotik und Automatisierung. Ihre Werkzeuge sind Künstliche Intelligenz und adaptive Algorithmen. Ihr Ziel ist es, Roboter und Maschinen in die Lage zu versetzen, aus Erfahrung zu lernen, und so auf eine aufwändige Programmierung zu verzichten.

 

von Bernd Müller

Kann sich ein Roboter eine Aufgabe selbst beibringen? Das wäre ein großer Fortschritt gegenüber dem heutigen Stand der Technik, denn bisher mussten die Ingenieure jede Bewegung eines Roboters stundenlang mühsam in eine Steuerung programmieren. Bisher war das kein größeres Problem, weil Industrieroboter in der Regel Jahre damit verbringen, die immer gleichen Aufgaben zu wiederholen. Doch die Ära der Massenproduktion von Millionen identischer Artikel neigt sich dem Ende zu, die Verbraucher wollen individualisierte Produkte, die sich in Form, Farbe und sogar Funktion voneinander unterscheiden.

 

Die Automobilindustrie ist ein Beispiel dafür. Einige Fahrzeugmodelle können Millionen von möglichen Ausstattungskombinationen haben. Wenn jede Änderung eine Neuprogrammierung erfordert, verlieren Roboter ihren Effizienzvorteil.

Einmal lernen, viele Probleme lösen

Vor diesem Hintergrund untersuchen Forscher von Siemens Corporate Technology in Berkeley, Kalifornien, gemeinsam mit Professor Pieter Abbeel an der University of California, Berkeley, wie sich Roboter neue Aufgaben aneignen können. „Gegenwärtig sind die Programmierzeiten der Roboter zu lang, um in kleineren Serien wirtschaftlich zu sein“, sagt Abbeel. Wir untersuchen Möglichkeiten, einen Roboter nur einmal zu programmieren, mit der allgemeinen Fähigkeit, die Montage zu erlernen und dann diese Fähigkeit wiederzuverwenden, um sie bei einer Vielzahl von Montageproblemen einzusetzen.“ Das Team arbeitet an der nächsten Generation einer vielversprechenden Technologie namens Deep Reinforcement Learning (DRL). Sie ermöglicht es dem Roboter, mit seiner Umgebung zu interagieren und sich nach mehreren Iterationen die notwendigen Fertigkeiten zu erarbeiten. Diese Methoden haben vielversprechende Ergebnisse in der Simulation gezeigt und in der Robotik-Forschung für große Begeisterung gesorgt.

 

Allerdings ist ihr Erfolg bei der Bewältigung von Problemen in der realen Welt viel geringer. Für eine einfache Aufgabe, die jeder Dreijährige in Sekunden erledigen könnte, etwa einen Metallzylinder in einen Metallring einzusetzen, können aktuelle DRL-Algorithmen in suboptimalen Lösungen stecken bleiben, wo der Stift an das Loch stößt, oder sie benötigen zu viele Versuche. „Mit DRL können Roboter von selbst lernen, aber sie erhalten kein Lehrbuch oder Material, das ihnen beim Lernen hilft“, sagt Juan Aparicio Ojea, Leiter der Siemens-Forschungsgruppe für fortschrittliche Fertigungsautomation in Berkeley, Kalifornien.

Roboter liest CAD-Daten

“Hier helfen CAD-Konstruktionsdateienweiter. Sie enthalten Informationen über Geometrie, Endmontagepositionen, Toleranzen und sind somit das perfekte Buch für Roboter, um schneller zu lernen“, sagt Juan Aparicio Ojea. Der Ansatz seines Teams hat sich im Vergleich zu den modernsten Methoden zur Verfolgung des Bewegungsplans des Roboters deutlich verbessert. Er kann Montageaufgaben, die eine hohe Präzision erfordern, auch ohne genaue Zustandsabschätzung in Sekunden statt in Stunden lösen. Wird das Teil ein paar Zentimeter zur Seite bewegt oder sieht es etwas anders aus, dauert es nur wenige Sekunden, bis ein intelligenter Roboter herausfindet, dass er seinen Greifer jetzt etwas weiter bewegen muss, um seine Aufgabe zu erfüllen.

 

„Dieses Verfahren ähnelt dem menschlichen Verhalten. Wann immer wir eine Abweichung von den Erwartungen feststellen, passen wir uns mit unserer sensorisch-motorischen Steuerung an“, sagt Eugen Solowjow, ein Forscher im Team von Juan Aparicio Ojea. „Menschen haben ein starkes, intuitives Verständnis für die Physik von Objekten um uns herum. Wir möchten Roboter mit einem ähnlichen Verständnis ausstatten“, ergänzt Aviv Tamar, Forscher bei der University of California.

 

Diese Arbeit hat dem Team die Anerkennung auf der renommierten IEEE International Conference on Robotics and Automation 2018 eingebracht, wo sie als Finalisten für das beste Paper in der Automatisierung mit mehr als 2000 Einreichungen ausgezeichnet wurden.

„Menschen haben ein starkes Verständnis für die Physik von Objekten. Wir möchten Roboter mit einem ähnlichen Verständnis ausstatten.“

AI-Expertise in den USA

„Wir wollen Menschen unterstützen und fördern, nicht ersetzen“, sagt Juan Aparicio Ojea. Menschen sollten Maschinen überwachen anstatt mit ihnen zu konkurrieren und monotone Handarbeit zu leisten. Diese Einstellung teilen viele Wissenschaftler und Entwickler von Siemens Corporate Technology in den Universitätsstädten Princeton, New Jersey, und Berkeley, Kalifornien. Sie wollen mit Künstlicher Intelligenz die Effizienz von Roboter- und Automatisierungssystemen, die zu den Kerngeschäftsfeldern von Siemens gehören, weiter steigern.

 

Zwei dieser Wissenschaftler sind Gustavo Quirós und Arquimedes Canedo. Ihr Ziel ist es, die Automatisierung zu automatisieren. Konkret wollen sie die Automatisierungstechnik vereinfachen. Noch heute sitzen Spezialisten wochen- oder gar monatelang vor einem Monitor, um neue Produktionsanlagen zu automatisieren. Ein großer Teil dieser Arbeit wiederholt sich. Darüber hinaus haben erfahrene Automatisierungsingenieure einige dieser Aufgaben mit Hilfe von Programmier- und Konstruktionsmustern optimiert, die ihre jüngeren Kollegen noch lernen müssen. Ist es möglich, dieses Wissen zu sammeln und in einen Assistenten einzuspeisen, der einfache Aufgaben übernimmt und Neulingen hilft?

Assistent schaut über die Schulter

Canedo ist überzeugt, dass das eine realistische Möglichkeit ist, aber nicht so, wie es in den 1980er Jahren versucht wurde, als japanische Forscher das gesamte Ingenieurwissen systematisieren wollten. Diese Bemühungen waren nicht sehr erfolgreich, da die Ingenieure nicht bereit waren, ihr Wissen mit Hilfe konsistenter Modelle und Beschreibungen ihres Know-hows an einen Computer weiterzugeben. Quirós, der sich auf die Bauphase neuer Produktionsanlagen konzentriert, glaubt, dass Künstliche Intelligenz heute helfen kann, dort erfolgreich zu sein, wo vorherige Versuche gescheitert sind. Dazu entwickelt sein Team derzeit ein kognitives Automatisierungssystem, das das Know-how der Ingenieure sammelt und ihnen gewissermaßen über die Schulter schaut und sie bei neuen Projekten unterstützt. Dieser Assistent beobachtet, wie Experten vorgehen, wie sie Probleme lösen und welche technischen Muster sie bei der Programmierung verwenden. Der Assistent lernt aus den vielen Automatisierungsprojekten. „Unser Ziel ist es, die Produktivität, Qualität und Zuverlässigkeit von Automatisierungsprojekten zu steigern“, sagt Quirós.

Max Wang, der die Siemens-Forschungsgruppe für Automatisierungs-Laufzeitsysteme leitet, geht noch einen Schritt weiter. Wang will Künstliche Intelligenz nutzen, um die Entscheidungsfindung in bestehenden Automatisierungssystemen zu automatisieren. Beispielsweise können die Sensoren eines Zugdrehgestells verdächtige Abweichungen erkennen, die darauf hindeuten, dass ein Defekt droht. Ein Algorithmus klassifiziert diese Abweichungen, zieht daraus Schlüsse und schlägt Maßnahmen vor, was der Betreiber unternehmen sollte. Bei drohender Gefahr kann das System sogar automatisch und sicher abgeschaltet werden. Laut Wang lernt das System derzeit noch aus den im Echtbetrieb erfassten, aber offline verarbeiteten Sensordaten, es sei aber geplant, das System auch im laufenden Betrieb zu nutzen.

Diagnose-Experte in der Tasche

Der in Wangs Team entwickelte Algorithmus ist so effizient, dass er von jedem genutzt werden kann, der ein Smartphone besitzt. Der Algorithmus, der in einer Smartphone-App läuft, verwendet Smartphone-Sensoren wie das Mikrofon und ermöglicht es der Software zu bestimmen, ob etwa ein Motor seltsame Geräusche erzeugt. Daraus würde die Software schließen, wann ein bestimmter Defekt auftreten und was die Ursache sein könnte. Dieser „Experte in der Tasche“, wie Wang es nennt, existiert bereits als MVP (Minimum Viable Product). „Dass wir die Intelligenz von Maschinen steigern, heißt nicht, dass morgen weniger Menschen in den Fabriken arbeiten“, sagt Aparicio, „Mensch und Maschine können sich vielmehr gegenseitig unterstützen“.

19.06.2018

Bernd Müller

 

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