Die Kontext-Revolution
Künstliche Intelligenzen sind an einem Punkt angelangt, an dem sie die nächste Welle technologischer Disruption auslösen können – egal in welcher Branche. Herkömmliche Deep-Learning-Verfahren sind dabei jedoch an ihre Grenzen gelangt. Ihr Problem: Sie versagen in puncto Kontext. Wissensgraphen ergänzen dies und ermöglichen die nächsten Schritte. Von KI getriebene Fabriken, autonom fahrende Züge, eine smarte Steuerung von Städten und ihres Energiebedarfs, die Kooperation von Mensch und Roboter – all das wird zunehmend Realität.
Von Sandra Zistl
Wir tun es mehrfach täglich, jeder von uns: Wir tippen Wörter in Suchmaschinen ein. Binnen Minuten werden wir – eine schnelle Internetverbindung und Auffassungsgabe vorausgesetzt – zu Fast-Experten egal welcher Disziplin. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir für viele Fragen nicht mehr zu Lexika greifen oder in Bibliotheken gehen müssen. Digitale Technik bringt uns das Weltwissen nach Hause. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass diese Technik immer vielschichtiger wird. So wird uns mittlerweile eine Vielfalt an Informationen rund um unsere Anfrage angezeigt – und zwar Informationen, die aus Datenquellen unterschiedlichen Formats stammen: Text, Video, Bild.
Daten aus Silos herausholen
Ein Beispiel. Eingabe „Mona Lisa“ bei Google. Ergebnis ist, dass Mona Lisa ein Gemälde von Leonardo da Vinci ist. Es hängt im Louvre, der ist in Paris. Die Franzosen nennen Mona Lisa „La Joconde“. Dazu werden Fotos vom Gemälde und Abbildungen des Malers gezeigt, Videos, etwa zum „Geheimnis der Mona Lisa“, eingeblendet, und eine Kachel von Google Maps zeigt Hotels in der Nähe, die diesen Namen haben. Wir bekommen also nicht nur Inhalt (content), sondern auch immer mehr Kontext geliefert.
Was dahinter steckt, ist keine Magie, sondern es sind sogenannte digitale Wissensgraphen (Knowledge Graphs). Laut Duden ist ein Graph eine „grafische Darstellung (z. B. von Relationen) in Form von [markierten] Knoten[punkten] und verbindenden Linien (Kanten)“. Und genau so funktionieren auch die digitalen Wissensgraphen. Sie holen Daten aus ihren Daten-Silos – also unterschiedlichen Quellen wie 3-D-Modellen, Bauplänen, Historien, etwa zum Lebenszyklus von Maschinen – heraus und stellen Zusammenhänge her. Dadurch können sie Antworten geben, zu denen Künstliche Intelligenz mit lernenden neuronalen Netzen, sogenanntem Deep Learning, bisher nicht fähig war.
Die nächste Welle technologischer Disruption
„Künstliche Intelligenzen sind an einem Punkt angelangt, an dem sie die nächste Welle technologischer Disruption auslösen können“, sagt Michael May, „und zwar egal in welcher Branche“. May ist in punkto Datenanalyse und Künstliche Intelligenz Technologiefeldleiter bei Siemens. Der Konzern hat in den letzten Jahren eine digitale Revolution vollzogen und zählt mittlerweile zu den Top Ten der Software-Unternehmen weltweit. Rund 200 Datenwissenschaftler und KI-Experten arbeiten an neun Standorten weltweit für den Konzern. May sieht das Deep Learning heute „zwar noch auf dem Höhepunkt des Hype Cycle“, aber: „Es versagt in puncto Kontext. Der Graph kann Kontext zur Verfügung stellen. Das eröffnet gegenüber Deep Learning ganz neue Möglichkeiten.“ Es bedeute einen Quantensprung für Anwendungen verschiedenster Art, sei es eine flexible Fertigung, die Instandhaltung von Anlagen, das Supply Chain Management – also die integrierte prozessorientierte Planung und Steuerung der Waren-, Informations- und Geldflüsse über die gesamte Wertschöpfungs- und Lieferkette – oder für den Bereich vorausschauender Analyse (Advanced Diagnostics). Der Einsatz von solchen Graphen ermöglicht es, Serviceangebote so präzise wie nie zuvor auf die Bedürfnisse des Kunden zuzuschneiden.
Domänenwissen für industrielle Wissensgraphen
Die Einsatzfelder für Graphen sind universell. Siemens hat sich auf industrielle Wissensgraphen spezialisiert. Sie katapultieren die Industrie 4.0 auf das nächste Level. „Die Basis dafür ist das immense Domänenwissen von Siemens“, sagt Michael May. „Es wird nun Schritt für Schritt gehoben. Wir setzen Wissensgraphen für die digitale Automatisierung von Expertenwissen ein.“ Siemens-Forscher haben sich damit auch in der internationalen Forschergemeinschaft einen Namen gemacht. Bei der „International Semantic Web Conference“ (ISWC) 2017 wurden sie mehrfach ausgezeichnet.
Künstliche Intelligenzen sind an einem Punkt angelangt, an dem sie die nächste Welle technologischer Disruption auslösen können.
Die Graphen setzt Siemens unter anderem im Energiebereich ein – konkret bei Gasturbinen. Hier konnten AI-Algorithmen aufgrund einer Big-Data-Analyse zwar bereits Regeln erkennen, etwa, dass bestimmte Bauteile nach einer gewissen Zeit ausfallen. Ein System jedoch, das wie der Graph für seine Aussage die Information hinzuzieht, wo das Teil gefertigt wurde, welche Temperaturen dort auftreten, wo es verbaut ist und – man denke etwa an Offshore-Ölplattformen – wie feucht und salzig die Luft ringsherum ist, liefert präzisere Aussagen. So lassen sich beispielsweise valide Risikoanalysen durchführen, wo vorher nur Kalkulationen möglich waren.
Neue Services für alle Branchen
Durch Datenintegration dieser Art und ihre Auswertung wird einer enormen Fülle neuer Services für jede Branche die Tür geöffnet. Von KI getriebene Fabriken, autonom fahrende Züge, eine smarte Steuerung von Städten und ihres Energiebedarfs, die Kooperation von Mensch und Roboter – all das wird zunehmend Realität werden. Wie vielfältig die Anwendung von Graphen ist, zeigt ein weiteres Beispiel von Siemens: die Optimierung von Gebäuden. Die Division Building Technologies (BT) setzt zurzeit einen in Zusammenarbeit mit der globalen Forschungsabteilung Corporate Technology (CT) entwickelten Graphen für die Konzernzentrale in München ein, die vor zwei Jahren eröffnet wurde. In dem bezüglich Architektur, Ausstattung und Energieverbrauch „intelligenten“ Gebäude sind mehr als 50 Sensortypen verbaut.
„Wir können in völlig neuer Qualität beantworten, wie die Räume genutzt werden“, sagt Markus Winterholer, der das Projekt für BT betreut. Es ist eine Wissensintegration auf höchstem Niveau. Möglich wird sie dank der Integration von drei digitalen Zwillingen in einen Wissensgraphen. Ein Zwilling hat das Wissen um die Sensoren, ihre Anzahl und ihre Messeinheiten. Der zweite kennt die Baupläne des sechsstöckigen Gebäudes. Der dritte digitale Zwilling sendet Live-Daten der Sensoren über die Cloud-Plattform MindSphere von Siemens. „So erhalten wir durch die Kombination historischer und aktueller Daten ein nie dagewesenes Bild des Gebäudes“, sagt Markus Winterholer.
Für Nutzer, Vermieter oder Facility Manager sei das wertvolles Wissen, mit dem sich die Umwelt schonen, Geld sparen und verdienen lasse. Als Beispiel nennt Winterholer neue Mietmodelle mit „pay per use“, der Nutzung angepasste Putzdienste und Klimaanlagen. „Und letztlich ist dieses Wissen essentiell für Evakuierungspläne im Notfall.“ Dank des digitalen Zwillings ließe sich dies auch schon in der Planungsphase von Gebäuden berücksichtigen – ein neues Angebot, das BT seinen Kunden zu bieten hat.
Der sympathische digitale Kumpel
Doch Wissensgraphen sind nicht nur beeindruckend. Ihre Intelligenz überschreitet insofern die menschliche, als sie in Sekundenbruchteilen Wissen zusammenführen und bewerten, das kein menschliches Gehirn parat hat. Aber sie existieren nur durch den Menschen und sind darauf angelegt, ihn zu unterstützen. Die wichtigste Aufgabe beim Erstellen eines Graphen ist laut Steffen Lamparter, der eine Forschungsgruppe der Siemens CT zum Thema KI leitet, die Frage: „Wie sieht der Mensch, der ihn nutzen will, seine Welt? Was sind seine Fragen, welche Datenquellen hat er, und was sind seine Erfahrungen als Experte?“ Aus der Erinnerung anderer könnten dann alle lernen. „Unser Ziel ist der digitale Begleiter, der sogenannte digital companion“, sagt Michael May. Er interagiere mit dem Menschen und führe ihn so zu besseren Entscheidungen. „Die Entscheidung fällt aber immer noch der Mensch“, sagt May.
05.07.2018
Sandra Zistl
Bildquellen: Von oben: 1. und 3. Bild gettyimage
Mobilität, Gesundheit, Energieverbrauch, Logistik – überall könnten die Dinge optimaler laufen. Im Interview erläutert Gerhard Weikum, Direktor am Max-Planck-Institut für Informatik, wie Wissensgraphen uns dabei helfen können, unser Leben angenehmer zu machen.
Pictures of the Future (PoF): Sie forschen auf dem Gebiet der Erkenntnisse aus sogenannten unstrukturierten Daten: Daten, die nicht in einer Datenbank oder anderen geordneten Struktur vorliegen. Welchen Mehrwert können diese bringen?
Gerhard Weikum: Sei es im Verkehr, der Logistik, bei Energie oder Gesundheit: In all diesen Bereichen gibt es im Alltag Steuerungsprobleme, also Optimierungsprobleme. Wenn unser Ziel ist, unser Leben besser zu machen, dürfen wir uns nicht nur auf die Daten von Maschinen und Systemen verlassen, sondern müssen uns auch mit der Erhebung von Daten befassen, die wir Menschen erzeugen – und zwar auch vermehrt, was das Hintergrundwissen, also den Kontext betrifft. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir für den nächsten Schritt der Optimierung in den genannten Bereichen auf solche Daten angewiesen sind.
Wieso brauchen wir dafür die unstrukturierten Daten?
Weikum: Ein Beispiel aus dem Energiebereich. Es ist nicht damit getan, Smart Meter in jedes Haus zu bauen. Man weiß dadurch nicht, wann Menschen bereit sind, ihr Konsumverhalten zu ändern. Gleiches gilt für den Verkehr: Nur aufgrund der plumpen Aufzeichnung des Verkehrsaufkommens kann ich nicht wissen, unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, Fahrgemeinschaften zu nutzen oder welche Strecke sie mit dem Fahrrad zurücklegen würden. Dafür bedarf es Hintergrundwissens: Wie interpretiert ein Mensch diese Situation aufgrund des Kontextes, sprich: Wann fällt er Entscheidungen, die sein Verhalten beeinflussen? Und genau dieses Wissen adäquat mit den erhobenen Daten der Systeme zu verknüpfen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen – das ist die Aufgabe von Wissensgraphen. Sie stellen Daten in Kontext und sind bereits sehr gut darin, den Menschen zu unterstützen, indem sie Empfehlungen aussprechen. Ganz gleich ob in Form von maßgeschneiderten Stromtarifen oder einem Verkehrssystem, das den meisten Einwohnern einer Stadt beliebt. Die Möglichkeiten wären gigantisch. Und genau daran arbeiten wir.
PoF: Die Unterstützung des Menschen ist das eine. Wo optimiert wird, gehen aber auch Arbeitsplätze verloren.
Weikum: Für mich steht außer Frage, dass durch die Digitalisierung Jobs wegoptimiert werden. Im Gegenteil: Es bedarf Jobs, die anspruchsvoller sind und Fähigkeiten erfordern, die der Computer nicht kann. Natürlich kann nicht jeder in jedem Alter noch beliebig umlernen. Deshalb müssen das Langzeitprozesse sein. Und genau das ist ja in der Geschichte immer wieder passiert. Die Menschheit hat die früheren industriellen Revolutionen auch verkraftet. Es heißt schließlich „Industrie 4.0“ da es davor schon drei gab. Wir werden auch noch 5.0 haben und das positiv gestalten. Wir haben es in der Hand, dass Künstliche Intelligenzen unser Leben besser machen.
Interview: Sandra Zistl
Vita:
Prof. Dr. Gerhard Weikum ist ein deutscher Informatiker und einer von fünf Direktoren am Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken. Er leitet dort die Abteilung für Datenbanken und Informationssysteme. Zu seinen Forschungsthemen zählen transactional and distributed systems, die Integration von Daten und Texten sowie das automatische Erstellen von Wissensdatenbanken. Gerhard Weikum ist einer der Autoren eines Buches über transaktionale Systeme. Er erhielt den VLDB-Zehnjahrespreis für seine Arbeit an automatic DB tuning. Zudem ist er einer der Urheber der YAGO Wissensdatenbank.
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