Wenn die Erfahrung zählt

Hinter jeder neuen Errungenschaft der Künstlichen Intelligenz (KI) stecken kluge Menschen. Zur internationalen Forschergemeinschaft gehören auch Volkmar Sterzing und Steffen Udluft, die bei Siemens Corporate Technology (CT) in München-Neuperlach Trends in der industriellen Anwendung neuer KI-Methoden setzen. In Fachkreisen haben sie Berühmtheit mit praktischen Anwendungen des Reinforcement Learning zur Steuerung des Verbrennungsprozesses in Gasturbinen erlangt. Zurzeit konzentrieren sie sich auf neue Anwendungen für Genetische Programmierung. Die beiden Forscher wurden 2017 mit dem Siemens-Preis „Erfinder des Jahres“ ausgezeichnet.

„Immer wenn es sehr kompliziert ist, eine Anlage zu regeln, weil viele Mess- und Stellgrößen betrachtet werden müssen, wird es für uns interessant“, sagt Sterzing, der die Forschungsgruppe Lernende Systeme leitet. Dies ist der Fall beim Verbrennungsprozess in einer Gasturbine: Das Gas-Luft-Gemisch strömt aus den Ventilen in die Brennkammer, wo es sich an einer Flamme entzündet. Dabei herrschen Temperaturen von über 1.600 Grad Celsius. Wie das Gas verbrennt, ob sich dabei eine starke Verbrennungsdynamik entwickelt, wie viel Stickoxide entstehen und wie lange eine Gasturbine überhaupt ihren Dienst tut – all das wird von vielen Faktoren beeinflusst: Die Qualität des Gases spielt eine Rolle, ebenso die Außentemperatur oder die geforderte Verbrennungsleistung. Viele Experten beschäftigen sich deshalb damit, wie der Verbrennungsprozess optimal geregelt wird. Und genau deshalb sind Volkmar Sterzing und Steffen Udluft auf die Idee gekommen, Künstliche Intelligenz zur Regelung einer Gasturbine einzusetzen.

Wenn Künstliche Intelligenz mit wenigen Daten lernt

 

Von Anfang an setzten sie auf Methoden, die nur relativ wenige Daten für die Lernphase brauchen, und betraten damit absolutes Neuland. Die Erfolge, die andere KI-Forscher beispielsweise mit einer Software erzielten, die Weltmeister in Brettspielen wie Go oder Schach besiegt, basierten alle auf der Verwendung riesiger Datenmengen. Um eine ähnlich große Menge an Daten für ein Trainingsprogramm der Gasturbine zu produzieren, hätte diese etwa hundert Jahre laufen müssen. Der Physiker Udluft hat deshalb eine dateneffiziente Methode für Reinforcement Learning mit neuronalen Netzen entwickelt. Damit hatte das Münchner Team weltweit die Nase vorn.

„Niemand wird mehr ‚dumme‘ Geräte und Anlagen kaufen, wenn er für vergleichbare Preise auch intelligente bekommen kann.“

Heute setzt Siemens das System namens GT-ACO (Gas Turbine Autonomous Control Optimizer) bereits im Pilotbetrieb zur Regelung von großen Siemens-Gasturbinen in den USA und in Südkorea ein. Sterzing erinnert sich an den ersten Test: „Wir waren überrascht, um wie viel besser die Gasturbine so betrieben werden kann.“ Die kontinuierliche Feinjustierung der Brennstoffventile optimiert den Betrieb der Gasturbine hinsichtlich Emissionen und Verschleiß, indem permanent die beste Lösung in Echtzeit gesucht wird. „Damit eine Gasturbine optimal läuft, muss man eigentlich immer einen Ausgleich suchen, bei dem diverse unerwünschte Effekte wie schwankende Verbrennungsdynamik, Effizienzverlust und Emissionen so niedrig wie möglich gehalten werden. Verbessert man eine Zielgröße, verschlechtert sich eine andere. Die Künstliche Intelligenz weiß, wie man den goldenen Mittelweg findet“, erklärt Sterzing.

Und die Gasturbine ist erst der Anfang. Sterzing und Udluft haben ihre Lernsoftware auch bereits für die Regelung eines Windparks eingesetzt. Die Verwirbelungen, welche die eine Windturbine erzeugt, beeinträchtigen die Effizienz der nächsten, dahinterstehenden Windturbine. Und dieser Effekt setzt sich durch den ganzen Windpark fort. „Das kann man nicht analytisch berechnen“, betont Sterzing. Also ein idealer Fall für die lernende Software.

 

Transparente Lösungswege mit Interpretierbarem Lernen

 

Tiefe neuronale Netze (Deep Learning) haben für rasante Fortschritte in der Mustererkennung gesorgt, beispielsweise in der Bild- und Spracherkennung. Die Ergebnisse ihrer in die Tausende gehenden, in sich verschachtelten, nicht-linearen Gleichungen sind allerdings nicht transparent. „Viele neue Anwendungen, beispielsweise die Steuerung in autonomen Fahrzeugen oder automatisierte Entscheidungen im Bank- und Versicherungswesen, benötigen nachvollziehbare Regeln, schon allein aus juristischen Gründen“, so Sterzing. Ergänzend zu neuronalen Netzen treibt sein Team deshalb die Forschung über Interpretierbares Lernen voran. Mithilfe von sogenannten genetischen Algorithmen können Steuerungsprogramme dann genauso wie neuronale Netze lernen, hochkomplexe Anlagen und Systeme zu steuern. Da es sich im Prinzip um ein System aus Gleichungen frei einstellbarer Komplexität handelt, lassen sich Regeln einfacher interpretieren als in tiefen neuronalen Netzen.

 

Millionen von Gleichungen in der Cloud

 

„Bei Siemens ist das Ingenieurwissen über 170 Jahre hinweg gewachsen und gepflegt worden“, sagt Sterzing. „Deswegen haben wir einen sehr detaillierten Blick auf die Systeme und können zugrunde liegende Zusammenhänge verstehen und für die Entwicklung optimaler Steuerungssysteme nutzbar machen.“ Dieses Domänenwissen ist hilfreich, um die sehr mächtigen genetischen Algorithmen zu parametrisieren. Es beginnt mit Gleichungen, die Inputvariablen zufällig miteinander kombinieren. „Dabei kommen zuerst einmal viele unbrauchbare Lösungen heraus. Jedoch produzieren einige dieser Lösungen minimal bessere Ergebnisse als die restlichen. Im nächsten Schritt werden die überlegenen Lösungen rekombiniert und führen so wiederum zu noch besseren Resultaten“, erklärt Ernst-von-Siemens-Stipendiat Daniel Hein, Doktorand in Sterzings Forschungsgruppe. Wie in der Evolution bilden sich nach und nach die besten Lösungen heraus. Es entsteht ein Steuerungsprogramm, dessen Regeln nachvollziehbar und dessen Ergebnisse mit denen eines neuronalen Netzes vergleichbar sind. Der Weg dorthin ist mindestens so aufwendig, wie ein tiefes neuronales Netz zu modellieren und zu trainieren. Millionen von Gleichungen werden in der Cloud auf vielen parallelen Servern über Wochen hinweg bewertet und rekombiniert. Das ist immerhin schneller als die Evolution der Natur, in der sich Lebewesen über Millionen von Jahren hinweg genetisch optimal an ihre Umgebung anpassen.

 

In Zukunft gilt: Die Erfahrung zählt

 

Tiefe neuronale Netze und Interpretierbares Lernen haben nach Ansicht Sterzings beide ihre Berechtigung, je nach Anwendungsfall. Auch die Kombination der Methoden ist möglich. So sind die Datenmodelle zur Systemidentifikation, also zum Abbild der Funktionsweise eines Systems wie beispielsweise eines Windparks, das Ergebnis von Rechenprozessen in einem neuronalen Netz. Die Steuerung kann aber mit Lösungen aus dem Interpretierbaren Lernen erfolgen. Sterzing ist überzeugt, dass dieses Know-how der Künstlichen Intelligenz in vielen Bereichen der Wertschöpfungskette Früchte tragen wird, sei es im Service, bei der Effizienzsteigerung oder sogar beim Design.

 

Siemens stellt viele komplexe Systeme her: Verkehrsleitsysteme, industrielle Automatisierungsanlagen, medizinische Diagnosesysteme. Überall ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz denkbar. „Schon in naher Zukunft wird eine Maschine, die bereits gelernt hat, wertvoller sein als ein fabrikneues Exemplar“, ist Udluft überzeugt. „Niemand wird mehr ‚dumme‘ Geräte und Anlagen kaufen, wenn er für einen vergleichbaren Preis auch intelligente bekommen kann“, ergänzt Sterzing. Die Zukunft hat gerade erst begonnen.

27.06.2018

Katrin Nikolaus

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