Die Zukunft der Fertigung: Ein Meilenstein für die Industrie
Der bewährte Kommunikationsstandard Ethernet wird um Quality-of-Service-Mechanismen erweitert und so optimiert. Mithilfe diverser neuer IEEE-Standards kann er künftig mehrere Protokolle – auch echtzeitfähige – parallel und zuverlässig innerhalb vorgegebener Maximalzeiten übertragen. Anwender in der Industrie und im Automobilbau stehen schon in den Startlöchern.
von Christian Buck
Völlig im Gleichtakt bewegen sie ihre stählernen Arme und winken dem Betrachter synchron mit ihren Greifern zu. Nicht die kleinste Verzögerung ist zu erkennen, wenn die beiden Industrieroboter ihr anmutiges Maschinen-Ballett vorführen. Hinter der perfekten Abstimmung steckt eine Technologie, die gerade eine neue Ära der industriellen Kommunikation einläutet: Time-Sensitive Networking (TSN).
Seit rund 40 Jahren ist Ethernet der unumstrittene Platzhirsch bei der kabelgebundenen Übertragung digitaler Daten. Von Anfang an dabei: Siemens – mit dem ersten Industrial-Ethernet-Netzwerk am Markt namens SINEC H1. Damit hielt Ethernet nicht nur Einzug in die Büros, sondern vor allem auch in die industrielle Fertigung. Allerdings gab es bei dem Standard von Beginn an ein Problem: Er konnte nicht garantieren, dass die vom Sender verschickten Datenpakete innerhalb einer bestimmten Zeit beim Empfänger ankommen. Für industrielle Steuerungen ist das inakzeptabel – Sensormesswerte und Steuersignale dürfen nicht zu lange unterwegs sein, wenn eine Maschine zuverlässig funktionieren soll. Sie erfordern eine Echtzeitkommunikation im Millisekunden-Bereich, wofür Ethernet jedoch ursprünglich gar nicht gedacht war.
Wer heute über Ethernet Echtzeitkommunikation betreiben will, muss darum zu technischen Erweiterungen greifen – so wie etwa beim weitverbreiteten Profinet-Standard: Dieser bindet beispielsweise innerhalb von Maschinen Sensoren, Aktuatoren und Antriebe an die zentrale Steuerung an und erweitert Ethernet zu diesem Zweck um die Möglichkeit, Daten in Echtzeit zu übertragen – bis hin zur hochgenauen Regelung von Servoantrieben. „Dafür benötigt man derzeit aber meist spezielle Hardware-Bausteine in den angeschlossenen Geräten“, erklärt Matthias Gärtner, Head of System Management im Bereich der Simatic-Steuerungen bei Siemens. „Außerdem lassen sich die verschiedenen Industrial Ethernet Echtzeit-Lösungen nicht parallel auf dem gleichen Ethernet-Netzwerk betreiben.“
Ein Meilenstein: Mittels TSN können alle Daten – auch echtzeitfähige – quasi gleichzeitig in einem einzigen Netzwerk übertragen werden.
Damit ist in Zukunft Schluss. Denn das Standardisierungsgremium IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers) hat Ethernet inzwischen um die für die Echtzeitkommunikation dringend benötigten Mechanismen, zum Beispiel zeitgesteuertes Senden, Synchronisation oder Bandbreitenreservierung, erweitert, um auf diese Weise eine verbesserte, sogenannte Quality of Service zu erreichen: nämlich mittels TSN. Damit kann Ethernet künftig alle angeschlossenen Geräte, die diese erweiterten Standards unterstützen, mit einer gemeinsamen Zeitinformation versorgen, sodass das gesamte Netzwerk präzise im gleichen Takt arbeitet. Außerdem sorgen Reservierungsprotokolle dafür, dass die Datenpakete nach einem vorgegebenen Fahrplan vom Sender über alle Zwischenstationen zum Ziel gelangen. Dabei wird auch die Topologie des Netzwerks berücksichtigt – also beispielsweise, ob es stern-, ring- oder linienförmig ausgelegt ist und wie viele Verteilstationen (Switches) zwischen Sender und Empfänger liegen. Sogar stoßfreie Redundanzverfahren sind in den TSN-Standards enthalten.
Ein Netzwerk für alle Daten
„Das ist in der Ethernet-Welt ein historischer Moment“, so Gärtner. „In Zukunft können Standard-Hardwarebausteine für Profinet und andere auf TSN aufsetzende industrielle Echtzeit-Kommunikationsprotokolle genutzt werden. Auf diese Weise können dann alle Daten – auch echtzeitfähige – quasi gleichzeitig in einem einzigen Netzwerk übertragen werden.“ Die Nutzer profitieren automatisch von der immer höheren Bandbreite im Standard-Ethernet, die im Zuge der steigenden IP-Konnektivität in den Automatisierungsanlagen auch mehr und mehr benötigt werden wird. Zudem wird die Kommunikation robuster, weil in den TSN-Switches die Switch-Ressourcen fest für den anliegenden Echtzeit-Kommunikationsbedarf reserviert werden, damit keine Informationen mehr etwa durch Pufferüberläufe verloren gehen können.
Neben der Nachfrage nach einer echtzeitfähigen Kommunikation innerhalb von Maschinen über Profinet steigt auch die Nachfrage nach einem deterministischen, das heißt festgelegten, Datenaustausch zwischen verschiedenen Maschinen – etwa für kooperierende Roboter, die gleichzeitig an ein und demselben Werkstück arbeiten und ihre Abläufe darum exakt aufeinander abstimmen müssen. Dafür hat sich inzwischen der Standard OPC UA mit der Erweiterung PubSub (Publish/Subscribe) etabliert, der ebenfalls Ethernet mit TSN als Übertragungsmedium nutzen kann. „Ich gehe stark davon aus, dass Ethernet mit TSN Einzug in die komplette industrielle Fertigung hält“, sagt Gärtner. „Und nicht nur das: Die Automobilhersteller wollen den neuen Standard auch dafür nutzen, beispielsweise innerhalb von Fahrzeugen die großen Datenmengen der Rückfahrkameras zu übertragen oder das autonome Fahren zu ermöglichen, das ohne Netzwerke mit Quality-of-Service-Mechanismen in den Autos nicht möglich ist.“ Dafür ist die Zeit jetzt gekommen: Erste TSN-Bausteine kommen nun auf den Markt, und auf der Hannover Messe 2018 wird Siemens die deterministische Maschine-zu-Maschine-Kommunikation über OPC UA PubSub mit realen TSN-Produkten demonstrieren. Ende des Jahres werden sie zu kaufen sein – dann ist Ethernet mit TSN endgültig im Zeitalter von Digitalisierung und Industrie 4.0 angekommen.
17.04.2018
Christian Buck
Siemens gehört zu den Treibern hinter der Entwicklung von Ethernet mit TSN. Sven Gottwald, Siemens-Experte für industrielle Kommunikation, erklärt, welchen Nutzen die Anwender vom Einsatz des neuen Standards haben.
Warum ist Ethernet mit TSN eine so wichtige Entwicklung?
Weil wir für die deterministische Kommunikation in der Industrie jetzt keine verschiedenen Industrial-Ethernet-Lösungen mehr brauchen. Alles setzt in Zukunft auf dem weit verbreiteten Ethernet mit TSN auf und lässt sich beliebig parallel betreiben – Profinet, OPC UA PubSub und natürlich sämtliche weiteren TCP/IP-basierten Protokolle. Diese Konvergenz ist für industrielle Anwender ein enormer Vorteil: Über ein einziges physisches Netzwerk lassen sich Daten aller Art übertragen, wobei die zeitkritischen Informationen immer Vorfahrt haben und zuverlässig rechtzeitig ankommen. Genau das brauchen die Unternehmen, um das Potenzial von Digitalisierung und Industrie 4.0 voll ausschöpfen zu können.
Wie wird der „Fahrplan“ für die Daten bei Ethernet mit TSN geregelt?
Das Standardisierungsgremium IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers) lässt hier zwei Möglichkeiten zu: Entweder ist dafür eine zentrale Einheit zuständig, oder die angeschlossenen Geräte handeln das untereinander aus. Siemens, als Mitglied des Testbed „Labs Network Industrie 4.0 (LNI4.0)“, bevorzugt die zweite Variante, weil bei dem zentralen Modell jede Änderung im Netzwerk einen hohen Aufwand für die Neukonfigurierung erfordern würde. Wenn sich das System hingegen selbst konfiguriert, lassen sich neue Geräte problemlos integrieren. Wir sprechen darum von einem „Plug & Work“-fähigen Netzwerk. Das ist für unsere Kunden ein großer Vorteil.
Wie ist Siemens beim Thema „Ethernet mit TSN“ aufgestellt?
Natürlich arbeitet die ganze Automatisierungsbranche intensiv an dem Thema. Siemens gehört hier aber ganz sicher zu den führenden Unternehmen. Wir sind aktiv in allen namhaften Standardisierungsgremien, zum Beispiel IEEE, IEC, OPC-F, PI, und teilweise stellen wir sogar den Editor einiger TSN-IEEE-Standards.
Erste TSN-Produkte werden noch in diesem Jahr in den Liefereinsatz gehen. Darum sind unsere Kunden mit Siemens bestens für die digitale Zukunft gerüstet.
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