Müll aus dem Meer
In den Ozeanen treiben gigantische Mengen an Plastikabfällen, die die Meereslebensräume gefährden. Forscher von Siemens Corporate Technology arbeiten deshalb an technischen Lösungen, mit denen der Müll künftig eingesammelt und sinnvoll verwertet werden soll. Die Herausforderung besteht darin, ein tragfähiges Geschäftsmodell daraus zu entwickeln.
von Tim Schröder
„Aus den Augen, aus dem Sinn“ dachte man lange Zeit beim Thema Plastikmüll. Vor allem in Ländern, in denen es an Recyclingsystemen oder einer funktionierenden Müllentsorgung fehlt, wirft man Kunststoffabfälle bis heute einfach in die Natur. Mit dem Regen gelangt das Plastik in die Flüsse und schließlich ins Meer. Da Kunststoffe in der Natur kaum abgebaut werden, wächst die Müllmenge permanent. Nach Angaben der Umweltschutzorganisation Ocean Conservancy und der Unternehmensberatung McKinsey treiben heute schätzungsweise 150 Millionen Tonnen Kunststoff in den Ozeanen. Und jährlich kommen geschätzte acht Millionen Tonnen hinzu. Das Plastik verschmutzt nicht nur Küsten. Es wird vor allem für Meereslebewesen zum Problem. Schildkröten oder Robben verheddern sich in alten Fischernetzen. Und viele Seevögel wie zum Beispiel Albatrosse fressen treibende Plastikteile und verenden daran. Aber auch wir Menschen sind betroffen. Von Jahr zu Jahr steigt die Gefahr, dass der Müll als Mikroplastik, also in Form winziger Kunststoffbruchstücke, in unsere Nahrungskette gelangt und damit auf unseren Tellern landet. Der Plastikabfall ist zu einer Tragödie globalen Ausmaßes geworden.
Ideen ohne Geschäftsmodell
Seit einigen Jahren arbeiten deshalb Start-up-Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen an Konzepten, um den Abfall aus dem Meer zu entfernen und im besten Falle wiederzuverwerten. Aktuell gibt es beispielsweise verschiedene Müllsammler-Prototypen, etwa einen Katamaran, der mit einem Netz Müll aus dem Wasser fischt. Im niederländischen Crowdfunding-Projekt „The Ocean Cleanup“ wurde innerhalb von fünf Jahren eine seefeste Barriere entwickelt, an der sich der Müll sammelt, den die Meeresströmung herantransportiert. Im Sinne einer maritimen Müllabfuhr soll der Müll anschließend regelmäßig per Schiff abgeschöpft und an Land transportiert und verwertet werden. Zwar erscheinen solche Konzepte vielversprechend, noch aber gibt es kein Geschäftsmodell, bei dem abzusehen ist, dass es sich mittelfristig rechnet und damit selbst trägt.
Bisherige Konzepte sind vielversprechend. Noch aber gibt es kein Geschäftsmodell, bei dem abzusehen ist, dass es sich rechnet.
Aus diesem Grund haben sich drei Forscher von Corporate Technology (CT), der zentralen Forschungseinheit bei Siemens, zusammengetan, um unter dem Motto „Cleaning the Ocean is Our Business“ die Rolle, die Siemens im Kampf gegen die globale Verschmutzung mit Plastikmüll einnehmen könnte, herauszuarbeiten. Die Arbeit der drei Forscher wurde in den vergangenen anderthalb Jahren durch das Siemens-interne Crowdfunding-Programm Quickstarter unterstützt, mit den ungewöhnlichen Ideen und Konzepte im Unternehmen schnell und unbürokratisch auf den Weg gebracht werden können.
Überblick über ein großes Thema
„Wir haben uns zunächst einen Überblick über den weltweiten Stand der Dinge bei der Entwicklung von Sammel- und Recyclingtechnologien und über die möglichen Absatzmärkte von Recyclingkunststoffen verschafft“, erzählt Felix Fischer, der an dem Projekt bei CT gemeinsam mit Ingo Bernsdorf und Florian Ansgar Jaeger arbeitet. Adidas zum Beispiel verarbeitet schon heute recycelten Plastikabfall aus dem Meer. Als eines von wenigen Unternehmen integriert der Sportartikelhersteller Nachhaltigkeit in sein Geschäftsmodell. So hat das Unternehmen 2017 etwa eine Million Paar Parley-Schuhe verkauft; 5 Millionen sollen es 2018 sein. Das Besondere: Laut Adidas verhindert jedes Paar dieser Schuhe, dass etwa 11 Plastikflaschen in den Weltmeeren schwimmen. Stattdessen werden diese für die Herstellung recycelt. Dieses Beispiel dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass man von kommerziellen Abfallsammeltechnologien oder etablierten Abfall- und Rohstoffströmen für Meeresmüll noch weit entfernt sei.
Die Siemens-Forscher verfolgen drei Stränge: die Detektion des Mülls auf See, das Einsammeln und die Verwertung.
Entdecken, sammeln, verwerten
„Letztlich gibt es drei Stränge, die wir verfolgen: die Detektion des Mülls auf See, das Einsammeln und die Nachbehandlung beziehungsweise Verwertung“, sagt Ingo Bernsdorf. „Alle drei Bereiche haben wir uns genauer angeschaut.“ Im Hinblick auf das existierende Technologie-Portfolio von Siemens wäre insbesondere die Verwertung interessant, erklärt Bernsdorf: „Uns schwebt eine Container-Lösung vor, in der nicht-recycelbare Plastikabfälle verbrannt werden können, um daraus über Verdampfer und Turbinen Strom zu erzeugen“, sagt Bernsdorf. Solche Container könnten insbesondere auf Inseln in Südostasien eingesetzt werden.
Aufgrund fehlender Abfallverwertungssysteme gelangt dort besonders viel Plastik ins Meer. Zum anderen wird der elektrische Strom dort vielerorts mit Dieselgeneratoren erzeugt. Insofern sind die Inseln und Inselstaaten vom Treibstoff-Import abhängig. „Ein solcher Container könnte leicht mit existierenden Siemens-Technologien realisiert werden“, ergänzt Jaeger. „Diese Lösung unterstützt eine dezentrale Energieversorgung, deren Bedeutung in Zukunft wachsen wird.“ Die südostasiatischen Inselgemeinden könnten entweder den Abfall nutzen, der täglich in großen Mengen an die Küsten gespült wird, oder jenen, der auf der Insel selbst anfällt.
Schwimmende Verwertungsplattform
Um des Plastikproblems wirklich Herr zu werden, muss man darüber hinaus jene gigantischen Müllmengen einsammeln, die weit draußen auf hoher See treiben. Zusammen mit Paul Cleverley aus der Siemens Division Digital Factory und Experten eines weiteren deutschen Hightech-Unternehmens aus dem DAX, das im Schiffbau aktiv ist, haben die drei CT-Experten erste Ideen für ein Schiff entwickelt. Dessen Clou: Es soll den Müll auf See einsammeln und direkt verwerten. So könnte man etwa Kunststoffe auf See vorsortieren und einen kleinen Teil des nichtrecycelbaren Plastikmülls direkt für den CO2-neutralen Betrieb der Plattform energetisch verwerten. Der andere Teil würde etwa durch Erhitzen, über die sogenannte Pyrolyse, in Öl verwandelt werden. Dieses kann unter anderem als Kraftstoff anderen Schiffen zur Verfügung gestellt werden. Ob dieses System Realität wird, ist noch unklar. Die Idee aber sei vielversprechend, sagt Felix Fischer. Im Austausch mit Kollegen der Siemens Division Power and Gas in Wien diskutieren die Experten auch weitere alternative Energienutzungen des Plastikmülls – etwa zur Meerwasserentsalzung.
Neben der Verwertung auf See oder der Stromerzeugung an Land ließen sich die Kunststoffe auch direkt nutzen. Und zwar via Recycling.
Da der Müll nicht gleichmäßig über die Meere verteilt ist, sondern sich aufgrund der Dichte und von Strömungen an verschiedenen Stellen konzentriert, werden Schiffe oder andere Müllsammlertechnologien nicht ohne ein Detektionssystem auskommen. Man könnte Drohnen aussenden, die Bereiche mit hoher Müllkonzentration aufspüren. Solche Drohnen müssten mit leistungsfähiger Kameratechnik und Sensorik ausgestattet und über eine Datenschnittstelle in das Gesamtsystem eingebunden werden. Fischer: „Mit der Siemens-Cloud-Lösung MindSphere verfügen wir bereits über eine leistungsstarke Technologie, die die drei komplexen Bereiche Detektion, Sammlung und Verwertung miteinander vernetzen könnte.“.
Rezyklate in eigenen Produkten?
Das Dreierteam von CT hat insbesondere auch verschiedene Wege ausgelotet, über die die Plastikabfälle künftig kostendeckend wiederverwertet werden könnten. Neben der Verwertung auf See oder der Stromerzeugung an Land ließen sich die Kunststoffe auch direkt nutzen. „Es wäre zu überlegen, ob Siemens selbst solche Recycling-Kunststoffe in eigenen Produkten nutzt“, sagt Florian Ansgar Jaeger. „Viele unserer Produkte benötigen spezielle Kunststoffmischungen, die hitzestabil oder brandhemmend sind. Man sollte überprüfen, in welchen Nischen Siemens nach und nach Rezyklate aus Ozeanplastikmüll einführen könnte.“ Eine Anwendung sei schon zum Greifen nah. Zusammen mit Siemens Real Estate, das unter anderem die Mitarbeiterrestaurants des Unternehmens in Deutschland betreibt, arbeiten die drei Forscher aktuell am Prototyp eines Trinkbechers, dessen Kern aus Meeresplastik-Rezyklat bestehen soll. Angesichts des großen Problems wäre das ein kleiner Anfang – aber ein Anfang, dem weitere Projekte folgen könnten.
20.09.2018
Tim Schröder
Bildquellen: von oben: Bild 1 and 2: gettyimages, 3. The Ocean Cleanup, 5. Adidas
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