Vom VHS-Zeitalter in die digitale Echtzeit
Größe und Energiebedarf der Gehirne autonomer Fahrzeuge drastisch reduzieren, die Kosten gar um den Faktor 1000 senken: Das ist der Anspruch eines der neuen Mitglieder im next47-Club. Wie der Venture-Capital-Accelerator von Siemens Innovationen in den Megatrend-Bereichen der digitalen Ökonomie beflügelt, zeigt ein Blick auf das aktuelle Portfolio.
Die Zukunft der Mobilität, geprägt von vernetzter E-Mobilität und autonomen Fahrzeugen; die Zukunft der Fertigung mit 3-D-Druck und beschleunigtem Markteintritt von Produkten; die Zukunft von Gebäuden und Städten mit immer schlauer werdender Infrastruktur – als Digitalisierungskonzern besetzt und gestaltet Siemens diese großen technologischen Felder und ist dabei immer wieder Trendsetter. In einer Welt, in der sich die Geschwindigkeit, mit der Innovationen hervorgebracht werden, enorm erhöht hat und in der die Art und Weise, wie sie zustande kommen, schneller, agiler und in gewisser Weise auch wilder geworden ist, hat Siemens die Arbeitsweise von Start-ups in vielen Geschäftsbereichen verinnerlicht.
Mit seiner globalen Venture-Capital-Einheit next47 holt der Konzern zudem Start-ups mit innovativen Ideen ins Boot. next47 wurde Ende 2016 gegründet, um zukünftige Geschäftsfelder für Siemens zu identifizieren und zu entwickeln. Dafür investiert die Einheit in diese jungen Firmen und arbeitet eng mit renommierten Gründern zusammen. Im vergangenen Jahr hat next47 einige Investitionen getätigt, die für die jeweiligen Geschäftsfelder von Siemens und seinen Kunden einen Mehrwert bieten. Investments dieser Art sind aber nur ein Standbein von next47. Innerhalb der Firma arbeitet eine Gruppe daran, innovative Start-ups in das Siemens-Ökosystem zu integrieren. Der Konzern kann seinen Kunden dadurch in einem sehr frühen Stadium Einblick in einige der innovativsten Technologien und Geschäftsmodelle geben, die langfristig einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bedeuten.
Autonome Fahrzeuge für den Massenmarkt
„Wenn Sie heute den Kofferraum von Prototypen autonomer Fahrzeuge öffnen, blicken Sie meist auf Hardware, die den kompletten Kofferraum füllt und 10.000 US-Dollar oder mehr wert ist. Das ist mehr, als für diese Fahrzeuge notwendig ist, und die Kosten sind für ein zukünftiges Massenprodukt viel zu hoch.“ Diese Feststellung stammt von Forrest Iandola. Er ist CEO und Mitbegründer von DeepScale und einet der neuen Partner im next47-Portfolio. Seine Firma hat sich in den vergangenen Jahren darauf spezialisiert, neuronale Netze mit Deep-Learning-Fähigkeit – sogenannte DNNs (Deep Neural Networks) – präziser und effizienter zu machen. Diese DNNs sind gewissermaßen das Gehirn autonomer Fahrzeuge. Sie sind für die Interpretation und Klassifizierung der Daten zuständig, die ein solches Fahrzeug über Sensoren sammelt. Das Ganze muss in Echtzeit passieren, damit das Fahrzeug auf die umgebende Situation reagieren kann.
„Wir heben uns von Wettbewerbern ab, da wir verstanden haben, wie DNNs effizient arbeiten können“, sagt Iandola. „Unsere höchst akkuraten DNNs laufen nicht über Plattformen, die die Größe eines Datencenters haben und auch so viel Energie wie diese verschlingen“, sagt Iandola, „sondern wir packen unsere DNNs auf kleine, kostengünstige und energieeffiziente Prozessoren, die für den Massenmarkt der Automobilindustrie tauglich werden sollen.“ Es wäre also der Eintritt in den Massenmarkt. Auch Anbieter vernetzter Infrastruktur und E-Mobilität wie Siemens würden von diesem Schritt profitieren.
Vorsprung um Epochen
Auch Verkada, ein Hersteller intelligenter Überwachungskameras und eine weitere Firma, auf die next47 nun setzt, ist davon überzeugt, sich mit seiner Technologie nicht nur von Wettbewerbern abzuheben, sondern diese gleich um ganze Epochen hinter sich zu lassen. „Unsere Konkurrenten konzentrieren sich auf die Hardware der Kameras und ignorieren die Software. Für den Nutzer ist das in etwa so, als würde man eine VHS-Kassette aufnehmen“, sagt Verkada-Mitbegründer und CEO Filip Kaliszan bewusst provokant. Herkömmliche Sicherheitskameras würden isoliert, jede für sich, arbeiten, und ihre Aufzeichnungen würden immer erst dann ausgewertet, wenn etwas passiert ist, also im Nachhinein. Verkadas Ziel ist es, diese Aufzeichnungen in moderne IT-Infrastrukturen integrierbar und in Echtzeit verfügbar zu machen, gerade auch für Kunden, die Tausende dieser Kameras verbaut haben. Möglich wird dies laut Kaliszan, da seine Kameras von Software getrieben und intelligent seien.
Verkadas Konkurrenten konzentrieren sich auf die Kamera-Hardware. Für den Nutzer ist das so, als würde man eine VHS-Kassette aufnehmen.
Schon jetzt könne man dank Verkadas Plattform vom Smartphone aus gezielt nach Vorfällen wie etwa dem Öffnen einer Tür suchen, ohne mühsam das komplette Video einer oder mehrerer Kameras ablaufen zu lassen. Die Software fragt diesen Vorfall direkt bei allen Kameras ab und sucht ihn heraus. Auch Erschütterungen bei Gebäuden könnten bereits erfasst werden. „Wir sind in Kalifornien, in der Erdbebenzone. Das sind äußerst relevante Informationen“, betont der CEO. Ziel von Verkada sei es, dass die Software in Echtzeit einen Alarm aufs Smartphone sendet mit der genauen Information, was gerade in welchem Teil des Gebäudes passiert. Das ermöglicht dem Verantwortlichen, zu handeln, selbst dann, wenn er sich gerade auf der anderen Seite des Erdballs befindet. „Unser Ansatz ist es, die Definition davon, was eine Sicherheitskamera üblicherweise leistet, auszuweiten und unseren Kunden eine ganze Bandbreite an sicherheitsrelevanten Applikationen zu bieten.“
Für Siemens, führend in intelligenter Gebäudetechnik und Infrastruktur, wäre die Integration solcher Kameras in eine übergeordnete IT-Infrastruktur eine Technologie, die das bestehende Angebot smarter Services komplettierte. Die Hotellkette Hilton, das Unternehmen Airtable und die Vancouver Mall setzen bereits auf Verkada-Kameras.
Digitale Transformation von unten
Neben diesen Schlüsseltechnologien für die digitale Zukunft der Mobilität und intelligenter Infrastrukturen hat next47 auch mehrere Start-ups im Portfolio, die mit digitalen Mitteln neues Potenzial in der industriellen Fertigung freisetzen, sei es im sogenannten Additive Manufacturing oder bei spezifischen Fragestellungen, die die Automatisierung der Fertigung mit sich bringt. Drei dieser Start-ups – Markforged, Tulip und Identify3D – stellten ihre Technologien im April auf der Hannover Messe vor. „Wir wollen die digitale Transformation von unten ermöglichen und die Menschen in der Produktion in die Lage versetzen, ihre Abläufe digital zu optimieren“, sagt Tulip-CEO Natan Linder. Tulip bietet Apps an, die branchenübergreifend einsetzbar sind und alle Abläufe in der Produktion integrieren und visualisieren. „Die Realität in den Werkshallen ist nämlich, dass da noch viel Papier und andere manuelle Mittel verwendet werden, um Prozesse zu überwachen und zu steuern. Das ist eine enorme Diskrepanz zu dem, was möglich ist“, so Linder.
Identify3D setzt an einem anderen Punkt des Herstellungsprozesses an. Laut Joe Inkenbrandt, CEO und Mitbegründer, bewegt sich die Fertigung dahin, dass Konstruktion und Produktion voneinander getrennt werden. Was versandt wird, ist oft nicht mehr das fertige Gut in hoher Stückzahl, das dann lagert und irgendwann verteilt wird. Stattdessen wird das Wissen darum, wie etwas hergestellt wird, digital weitergegeben und damit später nach Bedarf produziert – zwei Themen, die für Siemens sehr aktuell sind. „Entlang des digitalen Fertigungsprozesses werden Firmen dadurch angreifbar: beispielsweise was die Garantie der Qualität betrifft oder den Schutz geistigen Eigentums“, erklärt Inkenbrandt. Seine Firma bietet den Schutz des kompletten digitalen Prozesses an, indem sie eine Art digitalen Container baut, der die Herstellungsprozesse speicherbar und sicher verteilbar macht.
Prototypen: 50-mal schneller und 20-mal günstiger
Markforged schließlich hat mittels digitaler Methoden enorme Möglichkeiten im 3-D-Druck geschaffen. Die Firma hat mittlerweile große Kunden weltweit und ihre Technologie ermöglicht es, Prototypen aus Metall 50-mal schneller und 20-mal günstiger herzustellen als mit herkömmlichen Methoden. Ganze Farmen mit Tausenden vernetzter Drucker können mit einem Mausklick bedient werden. Laut Andrew de Geofroy, Vizepräsident des Application Engineering bei Markforged, lassen sich mit den Druckern seiner Firma Teile für weniger als zehn US-Dollar herstellen, für die vorher mehr als 30.000 Dollar aufgewendet werden mussten. „Die Möglichkeiten von Markforged haben enorme Auswirkungen auf die Zielgruppen von Siemens“, sagt Lak Ananth, Managing Partner von Siemens next47. „Sei es in der Automobilindustrie, der Luftfahrt, im Gesundheitswesen oder auf dem Gebiet der Energie: Alle Branchen können mit dieser Technologie die Zeit bis zur Marktreife enorm verkürzen und auch ganz neue, ungeahnte Wege gehen.“
29.06.2018
Sandra Zistl
Picture credits: from above: 1. RioPatuca Images/Fotolia; 3. Verkada; 4. Verkada; 5. Markforged
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