Mit dem digitalen Zwilling zu Wasser 4.0
Sauberes Wasser ist für viele Menschen selbstverständlich. Frischwasser kommt zuverlässig zu den Verbrauchern, Abwasser wird sicher aufbereitet. Dafür sorgen intelligente und vernetzte Strategien. So wie die von der Technischen Universität (TU) Berlin. Am digitalen Zwilling einer Pumpenstation werden hier innovative Konzepte wirklichkeitsnah untersucht.
Weltweit strapazieren Urbanisierung und Klimawandel natürliche Ressourcen. Beispiel Berlin: Seit 2000 hat sich die Einwohnerzahl der deutschen Hauptstadt um fast 300.000 Menschen auf 3,6 Mio. erhöht. Das entspricht einem Zuwachs von zehn Prozent in nur 20 Jahren. Bis 2030 könnten weitere 200.000 Einwohner hinzukommen. Verglichen mit den Metropolen Asiens nehmen sich diese Zahlen zwar bescheiden aus, doch für die Wasserressourcen ist dieses Wachstum eine große Herausforderung.
Wasserversorgung: Globale Herausforderungen
Dazu kommt: Lange Trocken- und Hitzeperioden werden im Zuge der weltweiten Erwärmung zunehmen, gleichzeitig sagen Prognosen vermehrt Starkregenereignisse voraus. „Trockenperioden führen nicht nur zu Geruchsbelästigungen aus dem Abwassernetz, sondern auch zu starker Korrosion der Einbauteile. Umgekehrt überlasten Starkregenfälle das Kanalnetz, was zu Überläufen und damit zur Freisetzung von belasteten Abwässern führen kann“, erklärt Prof. Paul Uwe Thamsen. Thamsen leitet das Fachgebiet für Fluidsystemdynamik des Instituts für Strömungsmechanik und Technische Akustik an der TU Berlin.
Infrastruktur durch Digitalisierung optimal nutzen
„Mit unserer Forschung möchten wir dazu beitragen, dass die Wasserwirtschaft in Deutschland, und speziell in Berlin, vorhandene Anlagen besser, flexibler und effizienter nutzen kann“, betont Thamsen. Digitalisierung liefert dazu wichtige Instrumente. Beispielsweise, um Betrieb und Wartung zu optimieren, etwa durch die Vernetzung von Systemen und durch neue Möglichkeiten der Datenanalyse. Aktuell forschen Thamsen und sein Team im Rahmen zahlreicher Projekte an einer Versuchsanlage einer Pumpenstation, die Schritt für Schritt um einen digitalen Anlagenzwilling erweitert wird.
Heterogene Systeme sind typisch für Bestandsanlagen, auch in der Wasserwirtschaft. Über das Digitalisierungsportfolio von Siemens möchten wir diese verschiedenen Systeme in eine einheitliche Umgebung integrieren.Prof. Paul Uwe Thamsen, TU Berlin
Digitalisierung greifbar machen
Als ein wichtiger Partner unterstützt Siemens den Versuchsstand mit innovativen Lösungen. „Gerade wenn es darum geht, die Vorteile der Digitalisierung in konkreten Anwendungen aufzuzeigen, liefern das Wissen aus Forschung, Anlagenbau und Automatisierungstechnik sowie das Know-how der Anlagenbetreiber zusätzliche Ideen und Impulse, die die Digitalisierung greifbar machen – nicht nur in der Wasserwirtschaft“, bekräftigt Markus Lade, Leiter des globalen Geschäfts für Wasser- und Abwasser bei Siemens.
Durchgängig digitalisiert und automatisiert
Das Unternehmen rüstet die Anlage derzeit mit einer umfangreichen Digitalisierungs- und Automatisierungslösung aus. Sie erstreckt sich von der Erfassung und Digitalisierung der Assets, der Prozessinstrumentierung, Stromversorgung, industriellen Kommunikation und Sicherheit, über das Motor- und Pumpenmanagement und das Prozessleitsystem bis hin zu Systemen für das Engineering und die Simulation von Anlagenzuständen.
Als Ergebnis liegen alle Informationen des Pumpenversuchsstands in einer einzigen digitalen Umgebung vor, von den Planungsdaten bis hin zu Betriebs- und Wartungsinformationen sowie teils eigenständiger Fehlerdiagnose und -behebung. Durch den bidirektionalen Datenaustausch zwischen dem verfahrenstechnischen Engineering mit Comos und dem Prozessleitsystem Simatic PCS 7 bleiben die Informationen dabei auch im Betrieb immer auf dem aktuellen Stand.
Digitaler Zwilling enthält alle Anlagendaten
Im ersten Schritt sind bereits sämtliche physische Anlagenkomponenten mit der Context Capture Software von Bentley per Fotogrammetrie erfasst und in einem 3D-Modell digitalisiert worden. Dieses Modell wurde anschließend in PlantSight geladen, wo es mit weiteren Daten verknüpft wird, um einen digitalen Zwilling des Pumpenversuchsstand zu erzeugen.
„Dieser Schritt war für uns besonders wichtig“, erklärt Thamsen. „Denn damit können wir zeigen, dass Digitalisierung auch in Bestandsanlagen einsetzbar ist und nicht nur in den wenigen Neubauten.“ Aktuell werden die Modelldaten mit der Prozessautomatisierung im Simatic PCS 7-Prozessleitsystem zu einem vollständigen digitalen Anlagenzwilling verknüpft, der alle Planungs- und Betriebsdaten einer Anlage über den gesamten Anlagenlebenszyklus bündelt.
Wir unterstützen das Projekt eines digitalen Anlagenzwillings für den Pumpenversuchsstand nicht nur mit Produkten und Systemen, sondern bringen uns auch aktiv ein, um gemeinsam die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern.Markus Lade, Siemens AG
Konkrete Anwendungen verdeutlichen Nutzen
Durch die Integration intelligenter Werkzeuge in den Pumpenversuchsstand konnte Thamsen bereits erste innovative Konzepte umsetzen. So lassen sich die Strom- und Spannungsverläufe des Pumpenantriebs mit dem Simocode Motormanagement entweder lokal oder in der Cloud auswerten. Aber auch anhand des Modells in PlantSight können auf Basis von Anlagendaten mithilfe Cloud-basierter Algorithmen Optimierungspotenziale abgeleitet werden. Auf diese Weise ist es möglich, häufig vorkommende Störungen von Pumpstationen bereits vorab zu erkennen und zu vermeiden.
Ein Beispiel sind sogenannte Verzopfungen, bei denen sich langfaserige Stoffe im zirkulierenden Abwasserstrom verdrehen und vor dem Laufrad sammeln. Im schlimmsten Fall kann die Pumpe blockieren. „Mit dem digitalen Performance-Zwilling erkennen wir anhand von Parametern Verzopfungen und können die Pumpe dann über den Rückwärtslauf reinigen“, erklärt Thamsen.
Schneller Einsatz in der Praxis
Da der Versuchsstand mit Industriekomponenten ausgerüstet ist, die so auch in vielen Abwasseranlagen im Einsatz sind, lassen sich solche neuen Lösungen auch schneller in die Praxis übertragen. „Wir können jetzt direkt in unserer Anlage darstellen, wie sich die Lösungen in ein reales Anlagenumfeld integrieren und die Ergebnisse live im Demonstrator zeigen. Dadurch lassen sich Innovationen schneller in den Markt bringen“, erläutert Thamsen und ergänzt:
„Wir haben hier eben nicht nur einen Versuchsstand, sondern eine komplette, reale Anlage mit Prozessleitsystem, Antriebstechnik, Sensorik und Aktoren. Mit unserem digitalen Zwilling können wir das komplexe Thema der Digitalisierung einfach und erlebbar machen – insbesondere für die Mitarbeiter in den Anlagen vor Ort und im Bereitschaftsdienst. Aus meiner Sicht ein echter Meilenstein auf dem Weg zu Wasser 4.0“!
Prof. Dr.-Ing. Paul Uwe Thamsen promovierte 1992 am Pfleiderer-Institut für Strömungsmaschinen an der TU Braunschweig. Nach mehreren Jahren in einem internationalen Konzern für Pumpen und Systeme nahm er 2003 die Professur im Fachgebiet für Fluidsystemdynamik an der TU Berlin an. Er arbeitet in vielen Gremien mit, darunter DWA, VDI, VDMA und ASME, und ist darüber hinaus seit 2017 International Chair (Water- & Wastewatertransport) an der NTNU in Trondheim.
Um die zahlreichen Gewässer in der Stadt als Natur- und Erholungsraum zu schützen, arbeiten in Berlin Hochschulen, Institute, Behörden und Unternehmen eng zusammen, damit aus Berlin eine Smart City wird. Dazu gehört auch, dass die vorhandene Infrastruktur schrittweise aufgerüstet und optimiert werden soll. So wollen die Berliner Wasserbetriebe mit innovativen Konzepten und intelligenter Infrastruktur die Vision von der Schwammstadt Berlin realisieren: Eine Stadt, die Regenwasser aufsaugt wie ein Schwamm und wieder abgibt, wenn Wasser benötigt wird. Dafür wird viel in neue Infrastruktur investiert – aber genauso wichtig ist es, vorhandene Anlagen optimal zu nutzen.
Juni 2020
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