„Neue Technologien sind vor allem Mittel zum Zweck“
Leitwarten von verfahrenstechnischen Anlagen sind meist so alt wie die Anlage selbst, nicht selten 30 Jahre und mehr. Heute stellt die digitale Transformation neue Anforderungen an die Automatisierung. Prof. Leon Urbas, Inhaber der Professur für Prozessleittechnik an der TU Dresden, und Eckard Eberle, CEO Siemens Process Automation, über Konzepte und Technologien für die Zukunft.

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Herr Prof. Urbas, Herr Eberle, webbasierte Applikationen prägen die technologische Entwicklung in der Digitalisierung. Was bedeutet das für die Leittechnik?
Prof. Leon Urbas: Webbasierte Technologien sind reif für den produktiven Einsatz in der Leittechnik. Richtig geplant und genutzt ermöglichen sie deutlich mehr Flexibilität als heutige Client-Server-Systeme. Weitgehend unklar ist allerdings noch, mit welcher Art von Information sich die Zusammenarbeit etwa in verteilten Leitwarten optimal organisieren lässt. Das untersuchen wir aktuell in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Eckard Eberle: Als Hersteller haben wir die Prozessleittechnik technologisch neu gedacht. Das Ergebnis ist unser vollständig webbasiertes Prozessleitsystem Simatic PCS neo. Es ermöglicht den direkten und sicheren Zugang zu allen benötigten Informationen, unabhängig von Standort, Zeitpunkt und über alle gängigen – auch mobilen – Endgeräte. Dabei bleibt das Know-how unserer Kunden stets vor unberechtigtem Zugriff geschützt.
„Webbasierte Technologien sind reif für den produktiven Einsatz in der Leittechnik.“Prof. Dr.-Ing. habil. Leon Urbas, Inhaber der Professur für Prozessleittechnik an der TU Dresden
Aktuell zögern Anlagenbetreiber häufig noch, wenn es um die Modernisierung ihres Prozessleitsystems geht. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Urbas: Nun, die Migration der Leittechnik ist für Anlagenbetreiber vor allem mit Kosten verbunden. Zudem wird durch neue Leittechnik allein noch kein Gramm verkaufbares Chemieprodukt mehr oder gar kosteneffizienter produziert. Deshalb halte ich es für unerlässlich, das Potenzial der nächsten Generation Leittechnik vorab sorgfältig zu analysieren – übrigens ebenso wie die Investitionen, die notwendig wären, um das Potenzial neuer Funktionen mit dem bestehenden System auszuschöpfen.
Eberle: Ja, absolut! Für den Kunden muss die Kosten-Nutzen-Relation stimmen. Deshalb messen wir dem Thema Investitions- und Know-how-Schutz eine sehr hohe Bedeutung bei. Sehen Sie, Simatic PCS neo sowie unser bewährtes Leitsystem Simatic PCS 7 nutzen aus diesem Grund dieselbe innovative Hardware-Plattform und auch die gleiche Applikationsarchitektur. Das ist ein einzigartiger Ansatz am Markt. Wir werden Simatic PCS 7 auch in Zukunft weiterentwickeln. Betreiber von bestehenden Anlagen können später schnell und zukunftssicher auf das neue webbasierte System umsteigen, wenn sie dessen Vorteile nutzen möchten.
„Für den Kunden muss die Kosten-Nutzen-Relation stimmen. Deshalb messen wir dem Thema Investitions- und Know-how-Schutz eine sehr hohe Bedeutung bei.“Eckard Eberle, CEO Siemens Process Automation
Anwender schätzen intuitiv zu bedienende Software in attraktivem Design. Wie lässt sich das auf Automatisierungssysteme übertragen?
Urbas: Software für Automatisierungssysteme muss schnell und mühelos erlernbar sein sowie fehlerverzeihend, und den aktuellen Systemzustand auf einen Blick anzeigen. Hochwertiges Design spielt dabei eine wesentliche Rolle, schließlich soll die Bedienung auch Spaß machen.
Eberle: Gutes Stichwort. Bei der Entwicklung von Simatic PCS neo haben wir einen starken Fokus auf intuitives Bedienen und eine einheitliche Workbench für alle Anwendungen gelegt. Engineering sowie Monitoring & Control für den Betrieb sind darin vereint, so dass der Anwender einfach per Knopfdruck umschalten kann. Das beschleunigt die Inbetriebnahme und reduziert Fehlerquellen.
Wenn es um Nutzerfreundlichkeit geht, erfreut sich Sprachsteuerung immer größerer Beliebtheit. Ist diese Technologie auch für den Einsatz in Industrieanlagen interessant?
Urbas: Prinzipiell ist Sprachsteuerung immer dann im Vorteil, wenn es darum geht, beide Hände frei zu haben. Mit Blick auf die Prozessindustrie sehe ich hier aber noch Hürden. So beeinträchtigt der dort herrschende Geräuschpegel die Erkennungsrate. Auch stimmen Wortschatz und Grammatik des aus Daten gewonnenen Digitalen Zwillings kaum mit unserer Schrift- oder Alltagssprache überein. Interessant wird es, sobald Sprachsteuerung die für industrielle Anforderungen erforderliche Präzision erreicht hat – bei vertretbarem Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Eberle: Im Bereich der Automatisierung arbeiten wir gerade intensiv an dem Thema „Digitale Assistenten“. Sie sollen den Anwendern die tägliche Arbeit erleichtern, andererseits aber auch die gerade relevanten Informationen aus der zunehmenden Datenflut filtern. Erste Projekte zur Sprachsteuerung im Kontrollraum oder auch die Nutzung von Chatbots für den Aufenthalt in der zumeist lauten Umgebung im Feld lassen uns da sehr positiv in die Zukunft blicken.
Bietet der Zugriff auf das Leitsystem über mobile Endgeräte auch Vorteile für den Anlagenfahrer?
Urbas: Ja, vorausgesetzt, mobile Geräte vereinfachen die Kommunikation zwischen Leitwarte und Feld. Dazu müssen Leitsysteme die räumliche Migration der Tätigkeiten über mobile Geräte unterstützen. Von den heute verfügbaren Technologien denke ich hier in erster Linie an Tablets. Aber auch Smartphones, Smartwatches und Datenbrillen werden an Bedeutung gewinnen, sofern es gelingt, sie nahtlos in ein übergreifendes Bedienkonzept zu integrieren.
Eberle: Genau deshalb basiert Simatic PCS neo auf HTML5-Technologie. Das macht es auf mobilen Geräten uneingeschränkt lauffähig und ermöglicht den hochflexiblen Zugang zum System über eine gesicherte Internetverbindung. Gerade in der weltweiten Zusammenarbeit lassen sich so auch Experten schnell und unkompliziert in ein Projekt einbinden – ein Browser-Link reicht prinzipiell aus. Im Service-Bereich sind Tablets bereits häufig bei unseren Kunden im Einsatz. Dank des webbasierten Systems können die Mitarbeiter so direkt auf konsistente Informationen zugreifen, zum Beispiel bei Wartung, Inbetriebnahme oder Gerätetausch.
„Software für Automatisierungssysteme muss schnell und mühelos erlernbar sein. Hochwertiges Design spielt dabei eine wesentliche Rolle, schließlich soll die Bedienung auch Spaß machen.“Prof. Dr.-Ing. habil. Leon Urbas, Inhaber der Professur für Prozessleittechnik an der TU Dresden
Welche Bedeutung haben Zukunftstechnologien wie Virtual, Augmented oder Mixed Reality für den Einsatz in Prozessleitsystemen?
Eberle: Gerade im Service haben wir Augmented Reality bereits aufgegriffen und arbeiten an ersten konkreten Anwendungen. Dabei lassen sich über Tablets zusätzliche Informationen aus unterschiedlichsten Quellen überall in der Anlage nutzen. Die eingebaute Kamera erkennt in Verbindung mit speziellen Bildverarbeitungs-Algorithmen ihre Umgebung anhand bestimmter Punkte, die mit real existierenden Feldgeräten verknüpft sind. So kann sich der Service-Techniker auf der Anlage orientieren, Schritt-für-Schritt-Anleitungen abrufen oder sich per Fernzugriff live mit einem Kollegen austauschen. Die Zukunft wird hier weitere, völlig neue Möglichkeiten hervorbringen. Die offene Architektur unseres neuen, webbasierten Prozessleitsystems bietet dafür schon heute ideale Voraussetzungen.
Urbas: Das sehe ich ganz ähnlich. Diese Technologien werden sich zunächst in Montage und Instandhaltung durchsetzen. Was die Leitwarte selbst betrifft, gehe ich davon aus, dass bei der Prozessführung auch weiterhin in einem funktionalen, zweidimensionalen Informationsraum gearbeitet wird. Für die interaktive Auswertung von hochdimensionalen Zustandsräumen, könnten solche Technologien aber durchaus vollkommen neue Ansätze für die daten- und simulationsgestützte Prozessführung bieten. Die Schnittstelle eines solchen Leitsystems könnte wie ein Computerspiel aussehen, in dem in enger Zusammenarbeit mit einer Künstlichen Intelligenz (KI) ein robuster Pfad durch ein mehrdimensionales, sich ständig veränderliches Minenfeld gefunden werden muss.
Apropos: Welches Potenzial eröffnet Künstliche Intelligenz für die Prozessleittechnik?
Eberle: KI wird aus unserer Sicht die Qualitätsstandards von Prozessanlagen künftig weiter steigern und Herstellungsprozesse flexibler und kosteneffizienter gestalten. Schon heute ist Simulation ein entscheidender Bestandteil des Digitalen Zwillings. Durch den kontinuierlichen Informationsaustausch zwischen realer Anlage und ihrem digitalen Abbild können wir den digitalen Zwilling laufend verbessern – und die Wissensschleife zwischen beiden Welten schließen. In unserem 2017 eröffneten AI-Lab engagieren wir uns dazu auch stark in Forschung und Entwicklung. So arbeiten wir unter anderem an der Marktreife der bereits erwähnten Digitalen Assistenten.
„KI wird aus unserer Sicht die Qualitätsstandards von Prozessanlagen künftig weiter steigern und Herstellungsprozesse flexibler und kosteneffizienter gestalten.“Eckard Eberle, CEO Siemens Process Automation
Urbas: Das klingt sehr interessant. Auch aus Sicht der Wissenschaft wirft KI viele spannende Fragen auf. Unter dem Titel „Förderliche Gestaltung cyber-physischer Produktionssysteme“ untersuchen wir beispielsweise im Rahmen eines interdisziplinären DFG-Graduiertenkollegs, welche Kompetenzen Operateure benötigen, die mit Smart Equipment arbeiten. Zudem gehen wir der Frage nach, wie wir hochautomatisierte Systeme gestalten müssen, damit die Verantwortlichen für Anlagensicherheit und Produktqualität die Vorschläge einer KI hinterfragen, bewerten und vielleicht sogar verstehen können. Im Zentrum für erklärbare und effiziente künstliche Intelligenz haben wir starke Schlüsselspieler der Region vernetzt, um Technologien, Methoden und auch die Akzeptanz von KI als „kognitiven Verstärker“ für menschliche Leistung in komplexen Systemen voranzubringen.
Zu guter Letzt: Cloud-basierte Anwendungen verlangen nach offen gestalteten Leitsystemen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung mit Blick auf die Zukunft?
Eberle: Offenheit ist ein zentrales Thema für aktuelle und künftige Systeme. Für die Ausgestaltung entsprechender Konzepte engagieren wir uns in verschiedenen Gremien. Etwa in der NAMUR, der Interessengemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie. Über Ansätze wie die Namur Open Architecture (NOA) generieren wir mit unseren Partnern über unser cloudbasiertes, offenes IoT-Betriebssystem MindSphere schon heute Mehrwerte für unsere Kunden aus ihren Daten.
Darüber hinaus bringen wir gemeinsam mit unserem strategischen Partner Bentley Systems mit PlantSight ein cloudbasiertes System auf den Markt, das es ermöglicht, aktuelle digitale Zwillinge von im Betrieb befindlichen Anlagen zu erzeugen. Dabei wird die reale Anlage mit den zugehörigen Engineering-Daten synchronisiert für einen effizienteren Anlagenbetrieb. Aus verschiedenen Datenquellen wird so ein ganzheitlicher digitaler Kontext für die zugeordneten digitalen Komponenten erzeugt.
Urbas: Solche Anwendungsfälle aus der Praxis machen das Potenzial deutlich, das die weitere Öffnung von Prozessleitsystemen mit sich bringen kann. Es ist sehr erfreulich, dass die Prozessindustrie mit der Forderung nach einer interoperablen Öffnung der bestehenden Systeme endlich eines der Schlüsselelemente jeder digitalen Transformation angeht – die Verfügbarkeit von Daten für weitere Geschäftsprozesse.
Die von den in der NAMUR organisierten Anwendern getriebene NOA oder der von The Open Group initiierte Standard O-PAS zeigen mit ihren anwendungsfallgetriebenen Lösungsansätzen, welchen wichtigen Beitrag die Öffnung der Leitsysteme für Innovationen in der Prozessindustrie leisten kann.
Dabei gilt es allerdings auch, den verantwortlichen Umgang mit den Daten aus Engineering und Betrieb im gesamten Lebenszyklus zu diskutieren, etwa bezogen auf Nutzung, Speicherung und Verteilung. Mit Blick auf die IT-Sicherheit werden hier professionell betriebene Daten- bzw. Rechenzentren künftig an Bedeutung gewinnen.
So sehr ich mich für Technologie begeistern kann, am Ende sind neue Technologien vor allem Mittel zum Zweck. Wenn sie in der Leitwarte der Zukunft dazu beitragen, einen leicht erlernbaren, selbsterklärenden, robusten, ästhetischen und vielleicht sogar spielerisch einfachen Zugang zu Industrieanlagen und ihren Digitalen Zwillingen zu gestalten, dann haben sie ihre Berechtigung in der Praxis unter Beweis gestellt.
• Vollständig webbasiertes Prozessleitsystem
… für gleichzeitiges, weltweit verteiltes Arbeiten in Engineering und Betrieb
• Intuitive Benutzeroberfläche und einheitliche Workbench
… für alle Anwendungen
• Objektorientiertes Datenmanagement
… für höchste Konsistenz aller Anlageninformationen
• Höchste Skalierbarkeite und Flexibilität
… für einfache Integration von Modulen und nahtloses Erweitern im laufenden Betrieb
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