Industrie 4.0: „Wir müssen viel mehr Gas geben!“
Die Automatisierungstechnologie steht in den unterschiedlichen Branchen vor gewaltigen Herausforderungen. Mittlerweile entstehen mit NOA und OPATM zwei unterschiedliche Systemkonzepte, um Automation flexibler und effektiver zu gestalten. Mit Dr. Thomas Tauchnitz, einem der führenden Experten auf diesem Gebiet, sprachen wir über den richtigen Weg für die digitale Zukunft der Automation.
Herr Dr. Tauchnitz, was bedeutet die Digitalisierung für die Prozessindustrie?
Dr. Thomas Tauchnitz: Die Prozessindustrie trifft ebenso wie die Fertigungsindustrie auf Marktanforderungen, die sich rasant verändern: Kürzere Lieferzeiten, kleinere Chargengrößen, schnellere Marktbelieferung mit innovativen Produkten, zunehmende globale Konkurrenz. Da muss sie sich überlegen, welche technischen Möglichkeiten der Digitalisierung sie für sich nutzen kann, um effektiver zu werden.
Die Digitalisierung ist sicher kein Allheilmittel, aber ein wichtiger Hebel. Und Digitalisierung muss nicht nur die technischen Prozesse flexibler machen, sondern auch die organisatorischen und logistischen.
Welche Rolle sollen Module in der Automatisierung der Zukunft spielen?
Der Begriff Modul ist leider nicht eindeutig definiert. Ein Modul kann eine klassische Package-Unit sein oder ein Kompressor mit seiner Instrumentierung. Beim „Rühren“ oder „Transferieren“ spricht man von logischen Modulen. Wenn wir über verfahrenstechnische Module sprechen, meinen wir eher Systeme der Spezialchemie oder Entwicklungsanlagen.
Kinder beispielsweise, die mit Lego bauen, setzen ihr Haus aus standardisierten Blöcken zusammen. Und so muss man sich Module für die Automatisierung vorstellen. Sie helfen, die Komplexität der Anlage zu beherrschen. Auch wenn sie heute leider weder in Leitsystemen noch in Engineering-Systemen durchgängig unterstützt werden.
Sehen Sie eine Branche, die sich aktuell als Treiber für modulare Automationsprozesse hervortut?
Der Maschinenbau ist schon relativ weit. Die Automobilindustrie, die für jedes neue Automodell alle fünf bis sieben Jahre eine neue Produktionshalle baut, wird folgen. Die Digitalisierung macht ihr den Innovationsschub leichter als der Verfahrensindustrie, wo Anlagen mitunter für 30 Jahre eingeplant werden. In der Prozessindustrie wird die Innovation langsamer gehen, weil es in Deutschland viele Bestandsanlagen gibt. Allerdings wurde von der NAMUR, der Interessengemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie, und dem Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) ein sogenannter Module Type Package (MTP) entwickelt, mit dem automatisierte verfahrenstechnische Module zusammengeschaltet werden können. Sozusagen „Plug and Play“ für Module, und hierfür gibt es schon erste Produkte am Markt.
Meine Vorhersage: Monolithische, geschlossene Automatisierungssysteme, die zehn Jahre unverändert laufen, wird es eher nicht mehr geben.Dr. Thomas Tauchnitz, Consultant für Automatisierung und Industrie 4.0
Ist es nicht einfach logisch, dass künftige Systeme grundsätzlich offen gestaltet werden müssen?
Ich bin ein großer Freund von Offenheit, aber sie muss die Randbedingungen der bisherigen Systeme erfüllen. Wir kennen das aus dem Office-Bereich. Ich kann einen neuen Drucker an ein vorhandenes System anschließen. Meistens geht das gut. Aber oft eben auch nicht. Wenn die Offenheit dazu führt, dass die Zuverlässigkeit meines Systems leidet, dann nützt sie nicht viel.
Aber: Im Moment entwickeln sich sehr schnell neue Möglichkeiten, Daten zu nutzen, nämlich prädiktive Instandhaltung, Prozess-Monitoring, Prozessoptimierung. Wenn Automatisierungssysteme nicht die hierfür notwendige Offenheit zum Datenexport und -import haben, werden sich Parallelwege etablieren. Quasi am Leitsystem vorbei. Und jeder Parallelweg stellt die Frage, ob man das Automatisierungssystem so noch braucht. Meine Vorhersage: Monolithische, geschlossene Automatisierungssysteme, die zehn Jahre unverändert laufen, wird es eher nicht mehr geben. Wenn solche Systeme nicht offen werden, werden sie nach und nach untergehen.
Aktuell bestehen zwei unterschiedliche Architekturansätze. Wie sehen diese aus?
Das ist NOA als Namur Open Architecture und OPATM als Open Process Automation. NOA zielt letztlich darauf, die benötigte Offenheit bei vorhandenen Automatisierungssystemen zu ermöglichen. Für den Export gibt es Zugriffsmöglichkeiten auf das Automatisierungssystem, auf das Remote I/O-System oder direkt auf die Feldgeräte. Für die Beeinflussung des Prozesses gibt es eine neuartige Schnittstelle, den sogenannten „Verification of Request“. NOA ist also eine schnell machbare Lösung für klassische Prozessautomatisierungslösungen.
OPATM, vorangetrieben vom Open Process AutomationTM Forum, dagegen zielt auf eine völlig offene Architektur des Automatisierungssystems selbst. Dies soll ermöglichen, dass viele sehr kleine Automatisierungskomponenten flexibel, Hersteller-neutral kombiniert werden können und zuverlässig zusammenarbeiten. Das hier in Deutschland entwickelte Module Type Package (MTP) für die modulare Produktion ist für das OPATM Forum sehr interessant. MTP ist sozusagen der erste Schritt zu OPATM.
Welches System wird sich durchsetzen?
Ganz klar: Namur Open Architecture. Und zwar nicht nur als Übergangslösung zur Öffnung existierender Automatisierungssysteme, sondern auch dauerhaft. In meinen Augen ist es durchaus sinnvoll, hochverfügbare und langfristige Echtzeitsysteme von Apps, Clouds und Trial-and-error-Spielwiesen sicher zu trennen.
Der MTP kommt auch. Aber ob sich die Open Process Automation durchsetzen wird, ist noch nicht sicher. Es ist natürlich für die Anwender ein Traum, auch die Automatisierung modular zusammensetzen zu können. Die Anforderungen Offenheit, Gleichberechtigung der Komponenten und Unterschiedlichkeit der Hersteller kollidieren aber noch mit Kriterien wie hoher Verfügbarkeit und langfristiger Stabilität. Ich bin gespannt, ob das gelöst werden kann.
Wir reden seit fünf Jahren von Industrie 4.0. Und dafür ist wirklich noch nicht genug passiert. Da bin ich sehr ungeduldig.Dr. Thomas Tauchnitz, Consultant für Automatisierung und Industrie 4.0
Gibt es eine Möglichkeit, OPATM und NOA miteinander zu kombinieren?
Wenn sich irgendwann herausstellt, dass OPATM funktioniert, wird keiner mehr auf die klassische Automatisierung setzen wollen. Dann wäre auch NOA nicht mehr nötig – die Systeme wären ja schon offen. Aber erstens wird es NOA sehr viel früher geben als OPATM. Und auch offene Lösungen brauchen einen rückwirkungsfreien Datenexport, der die Funktionalität der Automatisierung schützt, und einen kontrollierten Import im Sinne einer „Validation of Request“. Wer also als Systemanbieter die NOA-Elemente in seinem System implementiert, kann sie später auch für offene Automatisierungssysteme nutzen.
Welche Wünsche haben Sie an Hersteller und Produzenten?
Ich habe drei Wünsche. Erstens: NOA sollte so schnell wie möglich implementiert werden. Die NOA-Demonstratoren der NAMUR-Hauptsitzung 2017 wünsche ich mir in den Produktkatalog 2018 und die Demonstratoren von 2018 in den Produktkatalog 2019.
Zweitens: Wir haben längst gezeigt, dass NOA funktioniert. Also: Gas geben! Je länger die Realisierung dauert, desto mehr entstehen Parallellösungen, die die Automatisierungswelt nur noch komplexer machen.
Und drittens: Der digitale Zwilling bildet ja das Verhalten von Anlagen und Modulen elektronisch ab. Im Moment bekommen wir aus den Engineering-Tools die Daten noch nicht modular heraus. Da müssen die Hersteller dieser Tools noch modularer werden.
Die technologische Entwicklung verläuft rasant. Was sollte die Industrie Ihrer Meinung nach tun, um den Zug Industrie 4.0 nicht zu verpassen?
Die Automatisierungsanbieter und Cloud-Entwickler haben ihre Hausaufgaben gemacht. Aber ich höre von viel zu wenigen Anwendungsfällen, die in der Prozessindustrie realisiert werden. Wir müssen also schneller und mutiger werden – und auch Geld in die Hand nehmen. Wir reden seit fünf Jahren von Industrie 4.0. Und dafür ist wirklich noch nicht genug passiert. Da bin ich sehr ungeduldig.
Man muss sich ja nur die Initiativen im Ausland anschauen. Da treffen sich Arbeitskreise im Wochen- und nicht im Monatsrhythmus. Da gibt es nicht zwei oder drei Arbeitsgruppen, sondern hundert. Und da werden auch Investitionsgelder für Pilotlösungen bereitgestellt. Mir tut es weh, wenn gute Ideen am Ende an zwei Mitarbeitern und 200.000 Euro Mitteln scheitern. Wenn wir ein Rennen gewinnen wollen, brauchen wir Läufer und gute Schuhe, sonst werden andere auf der Siegertreppe stehen.
02.07.2018
Ingo Petz
Bildquellen: Siemens AG / Martin Leissl
Dr. Thomas Tauchnitz ist selbständiger Berater für Automatisierung und Industrie 4.0. Er gilt als einer der führenden Experten für die digitalen Herausfor-derungen in der Automatisierungs-technik. Zuvor arbeitete Dr. Tauchnitz als Technology Transfer Manager bei Sanofi in Frankfurt am Main und war als Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie (NAMUR) tätig. Als Automatisierungs-Ingenieur verfügt er über eine mehr als 30-jährige Erfahrung in der chemischen und pharmazeutischen Industrie.
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