Daheim in der Energiezukunft
Treffen Sie Peter, einen Bewohner der Seestadt Aspern in Wien. Mit seiner Wohnung nimmt er am innovativsten Forschungsprojekt Europas für eine urbane Energiezukunft teil.
Die Seestadt Aspern in Wien ist ein lebendes Labor. Der Forschungsgegenstand: Die urbane Energiezukunft. Im innovativsten Energieeffizienzprojekt Europas untersucht die Forschungsgesellschaft „Aspern Smart City Research“ das Zusammenspiel zwischen smarten Energiesystemen und intelligenten Gebäuden in einem realen Stadtteil. Weil die Stadt der Zukunft nicht nur effizient, sondern auch lebenswert sein soll, spielen im Projekt die Seestadtbewohner eine wichtige Rolle. Wir haben einen von ihnen besucht.
Wenn Peter seine Wohnung verlässt, drückt er den Eco-Schalter neben der Eingangstür. Der Schalter deaktiviert das WLAN und trennt die Steckdosen mit Wasserkocher, Fernseher oder Kaffeemaschine vom Netz. Für Geräte mit Zeitschaltung oder Digitaluhr gibt es eigene Steckdosen, die immer mit Strom versorgt bleiben.
Mit der Energie-App auf seinem Mobiltelefon kann Peter die Fußbodenheizung bereits einschalten, während er noch in der U-Bahn sitzt. Auch Beleuchtung und Belüftung kann er manuell oder via App bedienen. Für seine 50 Quadratmeter große Single-Wohnung ist voreingestellt, dass er montags Homeoffice macht und donnerstags nach der Arbeit noch ins Fitnessstudio geht.
Die Energie-App für Tablet und Smartphone zeigt ihm zu jedem Zeitpunkt Temperatur und Luftqualität im Wohnbereich an sowie den aktuellen Verbrauch für Warmwasser, Heizung und Strom. Für mehr Überblick gibt es Monats- und Jahresstatistiken. Peter kann den Verbrauch jedes einzelnen Geräts einsehen und überlegen, ob sich die Anschaffung eines energiesparenderen Kühlschranks oder einer effizienteren Waschmaschine für ihn lohnt. Die App gibt Energiespartipps, bevormundet ihn aber nicht. Er kontrolliert und optimiert seinen Energieverbrauch ohne viel Aufwand.
Einer von 111 „Smart Usern“ in der Seestadt Aspern
Peter ist kein erfundener Smart-City-Bewohner. Seit vier Jahren lebt er in einem wärmeautarken Wohngebäude in der Seestadt Aspern in Wien. Als einer von 111 „Smart Usern“ nimmt er an einem Live-Daten-Demonstrationsprojekt teil, das Siemens gemeinsam mit dem lokalen Energieanbieter Wien Energie und dem Netzbetreiber Wiener Netze durchführt. Das war aber nicht der Grund, warum er hier eingezogen ist. Er lebt einfach gerne am Rand der Stadt, im Grünen, in einem Neubau: „Ich spare gerne Strom und interessiere mich für Energiethemen. Daher habe ich mich freiwillig für den Feldversuch gemeldet“, erzählt er.
Im Alltag spürt Peter nichts von dem Forschungsbetrieb: „Nur einmal habe ich einen Hauptschalter deaktiviert und bin auf Urlaub gefahren. Da wurde ich angerufen, weil der Datenstrom aus meiner Wohnung unterbrochen war.“ Er genießt es, als Smart User früh über neue Möglichkeiten informiert zu werden oder als Pionier etwas auszuprobieren, etwa die Fußbodenkühlung ab 2020.
Vier Pfeiler für die Stadt der Zukunft
Der Smart User ist nur einer von vier Pfeilern der Stadt von Morgen. Die drei weiteren bilden die intelligenten Systeme, von denen Peter umgeben ist: Zum Ersten das Smart Building, in dem er wohnt. Zum Zweiten das Smart Grid, das ihn mit Energie versorgt. Und zum Dritten die smarte Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT), welche alle Systeme, etwa Wärmepumpen, Solaranlagen und Gebäudeoptimierungssysteme, miteinander, aber auch mit Peter, kommunizieren lässt.
Auch wenn uns Smart User Peter nun namentlich bekannt ist, bleibt er für die intelligente Stadt ein anonymer „Spender“: Mittels Smart Meter und Smart App stellt er Daten zu Raumkomfort und Energieverbrauch zur Verfügung. Peter wohnt bereits in einem Smart Building, das Wärme und Strom erzeugen und speichern kann. Durch optimierte und automatisierte Steuer- und Regelungsmechanismen sollen smarte Gebäude Angebot und Nachfrage bei Wärme und Strom sinnvoll abfedern und austarieren. Für die Forschung sind also individuelle Daten, Verbräuche und Verhaltensmuster nicht interessant und auch die Gebäudetechnik interessiert nur, wo jemand ist, aber nicht, wer es ist. Die Kapazitäten zur Speicherung und zeitverzögerten Bereitstellung bringen Flexibilität, die auf Energiemärkten oder zur Stabilisierung des Smart Grid genutzt werden können.
Das Smart Grid optimiert sich selbst und bleibt stabil angesichts kommender Herausforderungen: der zunehmenden Elektrifizierung von Mobilität, Wärmeerzeugung und Gebäudesteuerung, dem schwankenden Angebot aus erneuerbaren Energieträgern wie Sonne und Wind, den unterschiedlichen Verbräuchen je nach Wetterlage, Lebensstil und E-Mobilität sowie der zunehmenden Dezentralisierung. Strom wird nicht mehr nur im Kraftwerk erzeugt, sondern auch mit Photovoltaik oder einer Windturbine auf dem Dach von Wohnhäusern. Strom wird künftig auch verteilt gespeichert in Schulen, Wohnhäusern oder Shopping Centern.
Zur Abstimmung der beteiligten Datenströme, Systeme, Standards und Prozesse braucht es die smarte Informations- und Kommunikationstechnologie. Smart ICT durchdringt und umgibt die drei anderen Bereiche. Je nach situationsbezogener Aufgabe fungiert sie dabei als Universaldolmetscherin, Schaltzentrale, Datenbank, Dirigent, Fieberthermometer oder auch als Marketenderin. Was wie Zukunftsmusik klingt, wird gerade komponiert, niedergeschrieben und erfolgreich geprobt.
Das Testfeld in Wien
Wie weit man mit Energieeffizienz kommen kann und welche Lösungen zielführend sind, wird im Wiener Stadterweiterungsgebiet Aspern seit 2013 konkret entwickelt und getestet. Der Ausbau der Infrastruktur in wachsenden Städten und eine Aufrüstung von Stromnetz und Gebäuden wollen wohlüberlegt sein. Schließlich sollen bis 2028 ganze 240 Hektar eines ehemaligen Flugfelds erschlossen werden und 20.000 Menschen Lebens- und Arbeitsraum bieten. Begleitend zur Errichtung des neuen Stadtquartiers wurde 2013 die Forschungsgesellschaft „Aspern Smart City Research“ (ASCR) aufgesetzt.
Ende 2018 wurde die erste Phase der erfolgreichen Zusammenarbeit abgeschlossen und die Verlängerung und Budgetierung der gemeinsamen Anstrengungen von 2019 bis 2023 beschlossen. Neben Siemens als Technologiepartner sind die Wirtschaftsagentur Wien, der Netzbetreiber Wiener Netze, der Stromanbieter Wien Energie und die Entwicklungsgesellschaft des Stadtviertels, Wien3420 Aspern Development AG, an Bord.
Energieoptimierung im großen Stil
In Phase eins wurden ein wärmeautarkes Wohnhaus mit 213 Einheiten, in dem auch Peter wohnt, ein ebenfalls wärmeautarker Bildungscampus mit Kindergarten und Volksschule und ein Studentenheim mit 300 Plätzen vernetzt und beforscht. Peters Datenstrom fließt mit den Daten anderer Smart User sowie unzähliger Sensoren in den Gebäuden, den technischen Systemen, der umgebenden Umwelt und dem umgebenden Stromnetz zu einem Datenmeer zusammen, das von Aspern Smart City Research ausgewertet wird. Auch ein Smart User will in erster Linie angenehm leben.
Je nach Motivation und Möglichkeit kann er dabei auch noch Energie und Kosten sparen. Das gemeinsame Ziel von ASCR ist wiederum, die Erzeugung, Verteilung, Speicherung und den Verbrauch von Energie für einen ganzen Stadtteil zu optimieren. Mit der Errichtung des Testfelds wurden in den vergangenen Jahren täglich 1,5 Millionen Live-Datenpunkte für Grid und Gebäude geschaffen und mit diesen wurde im Echtbetrieb die Energieeffizienz verbessert.
Übersetzen statt vereinheitlichen
In den Smart Buildings wurden Heizung, Kühlung, Lüftung, Beleuchtung, Zugangs- und Sicherheitssysteme, Wärmepumpen, Solarthermie, Photovoltaik-Anlagen, Batterien und E-Mobilität gemeinsam in den Blick genommen. Ströme von Wasser, Wärme und Elektrizität in den Gebäuden wurden gemeinsam verfolgt. Vorstellen darf man sich die Daten-Zentrale also wie eine UNO-Generalversammlung ohne Dolmetscher.
Ziel von Siemens war es, die Sprache der Gebäude, die Sprache des Netzes, die Verbrauchsmuster der Bewohnerinnen und Bewohner und die technischen Standards nicht vereinheitlichen zu müssen, sondern prototypisch Übersetzer zu entwickeln. Universal einsetzbare Lösungen sollten zur internationalen Marktzulassung vorbereitet werden, was auch gelang.
Smartes System verringert CO2-Emissionen von Gebäuden
Bis Anfang 2019 wurden 60 Forschungsfragen von der ASCR beantwortet, Siemens allein hat 11 Patente angemeldet. Gemeinsam wurden Lösungen für intelligente Gebäude und den künftigen Ausbau der Netzinfrastruktur entwickelt. Es gibt nun Anwendungen, um die aktuelle Netzbelastung zu überwachen, das Netz effektiver zu nutzen und automatisch zu erkennen, wie verschiedene Sensoren im Netz verbunden sind, sei es über Powerline, Glasfaserkabel oder Funktechniken. Außerdem hat man viel über die besten Messintervalle und die optimale Sensorausstattung herausgefunden.
Ein Building Energy Management System (BEMS) optimiert den Energieverbrauch von Gebäuden automatisiert, was nachweislich CO2-Emissionen und Energiekosten spart. Zudem wurden die Gebäude zur aktiven Teilnahme am Strommarkt befähigt. Aus fünf Jahren Livebetrieb mit Gebäude-, Netz-, Wetter-, und Verbrauchsdaten wurden Simulationsmodelle für künftige energieoptimale Gebäude entwickelt. Eine smarte Software erkennt in dem Datenmeer, welche Wege der Strom im Niederspannungsnetz nimmt. Mit solchen Informationen kann das zukünftige Stromnetz effizienter und fit für erneuerbare Energien, Batterieheimspeicher oder Elektromobilität gemanaged werden.
Das nächste Forschungsziel: Betriebskosten weiter senken
In Phase zwei der ASCR-Kooperation wird die Auswertung um ein Bürogebäude erweitert, das einen sogenannten digitalen Zwilling besitzt, also einer maschinenlesbaren, digitalen Gebäudedatenablage für räumliche, zeitliche und technische Informationen von Planung bis Betrieb.
Die Forschung bis 2023 zielt darauf ab, die Betriebskosten für Gebäude und Netzinfrastruktur weiter zu minimieren, etwa durch vorausschauende Wartung. Die Gebäudedaten aus dem digitalen Zwilling sollen zu einer Drehscheibe werden, die Daten, Nutzer und spezifische Anwendungen miteinander verbindet. Darauf entwickelte Lösungen sollen sich möglichst selbst konfigurieren und leicht zu bedienen sein. Auch das wichtiger werdende Thema Kühlung in Gebäuden soll bearbeitet werden. Das ASCR-Team will ihre Ladeinfrastruktur für die wachsende Zahl an E-Fahrzeugen gut in das Verteilernetz integrieren und an neue, datenbasierte Energiemarktmodelle anknüpfen. Wenn Batterien gesteuert geladen und entladen werden, könnten diese Potenziale für den Stromhandel genutzt und Geld gespart bzw. erwirtschaftet werden.
Smart User Peter wird weiter angenehm wohnen und bequem unnötigen Stand-by-Modus vermeiden. Bei einem E-Car-Sharing-Modell wäre er in Zukunft gerne dabei. Es gibt nämlich eine E-Tankstelle im Haus und die gut genutzte Abwärme aus der Garage trägt ihren Teil zur Wärmebilanz seines Wohnhauses bei. Bei der letzten Mieterversammlung wurde zudem darüber abgestimmt, ob sich einige Bewohnerinnen und Bewohner zusammenschließen wollen, um auf dem Dach mehr Strom zu produzieren. Und wer weiss: Vielleicht wird Peter schon bald überschüssigen Strom aus der gemeinsam betriebenen PV-Anlage zum besten Preis ins Netz einspeisen.
Bilder: ASCR, Wien 3420 AG, Siemens AG
2019-11-07
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