„Jede Organisation wird Edge-Infrastruktur brauchen“

Edge Computing, 5G und IoT: Welche Auswirkungen haben die aktuellen Trends auf die Entwicklung von Rechenzentren?

Die rasante technologische Entwicklung macht vor Rechenzentren nicht halt. Mit dem Internet der Dinge (IoT) wächst auch der Bedarf an Speicher- und Verarbeitungskapazität. Und mit Edge Computing ist ein Trend hin zu dezentralen Lösungen entstanden. Bertrand Delatte, Leiter des Bereichs Data Center Solution & Services Europa bei Siemens sagt, wie er die Entwicklungen einschätzt, welche Gefahren mit neuen Technologien verbunden sind und warum er Transparenz beim Betrieb von Rechenzentren für unerlässlich hält.

Bertrand Delatte, der Markt für Cloud-Infrastruktur wird von amerikanischen Konzernen dominiert. Wird Europa abgehängt?

 

 

Bertrand Delatte: Europa hat in jüngerer Zeit stark aufgeholt. Zwar wächst der Cloud-Markt nicht so schnell wie in den USA und Asien, aber gerade in den letzten drei Jahren ist die Zahl der Rechenzentren in Europa massiv gestiegen. Lange galten Frankfurt, London, Amsterdam Paris und Stockholm als Europas Datacenter-Hotspots. Mittlerweile sind weitere dazugekommen, ich denke etwa an Mailand, Wien, Madrid, Kopenhagen oder Oslo. Allerdings wird die Entwicklung auch in Europa vor allem von amerikanischen und asiatischen Cloud-Infrastruktur Playern getrieben. 

Wie sieht es mit europäischen Anbietern aus?

 

Es gibt nach wie vor keine europäischen Cloud-Anbieter, die in derselben Liga spielen. Aus einer geo- und industriepolitischen Sicht sollte das der EU zu denken geben. Insgesamt glaube ich, dass sich die Cloud-Services in Europa anders entwickeln werden als etwa in den USA. In Europa operieren Serviceprovider viel stärker regional oder lokal. Dafür mitverantwortlich sind sicherlich auch die strengen Datenschutzgesetze der EU. Diese Datenschutzgesetze können aber auch für europäische Organisationen und Firmen eine Chance sein, da die Daten anonymisiert intelligent verarbeitet werden. Damit wird die Ethik sichergestellt und Demokratien digital gestärkt.  

Ich glaube, dass sich die Cloud-Services in Europa anders entwickeln werden als etwa in den USA. 

Mit der Popularität des Internet of Things (IoT) nimmt das Datenvolumen exponentiell zu. Wo werden all diese Informationen in Zukunft verarbeitet und gespeichert? 

 

Die digitale Revolution stellt Unternehmen, aber auch die öffentliche Hand, vor große Herausforderungen. Cloud-Dienste werden bezüglich der Internet-Bandbreite und der Internet-Latenzzeit an Grenzen stoßen. Deshalb werden immer mehr IOT-Daten außerhalb der Rechenzentren verarbeitet und berechnet werden. Dafür braucht es eine dezentrale IT-Infrastruktur, die den individuellen Bedürfnissen eines Unternehmens angepasst ist. Solche Lösungen werden in der Branche als Edge Computing bezeichnet. Ich glaube, dass jede Organisation, die langfristig erfolgreich sein will, in Zukunft intelligente Edge-Infrastruktur brauchen wird. Sie muss in der Lage sein, ihre IoT-Daten zumindest teilweise vor Ort zu verarbeiten.  

Was bedeutet diese Entwicklung für Ihr Geschäft – den Verkauf von Datacenter-Lösungen?

 

Edge-Infrastruktur verlangt einen ganz anderen Ansatz als das Geschäft für große Rechenzentren. Wir bei Siemens setzen auf vorgefertigte, modulare Lösungen, die sich rasch den individuellen Kundenbedürfnissen anpassen lassen. Unsere klassischen Kompetenzen – etwa Brandschutz, Sicherheit oder Gebäudemanagement – können Kunden dabei als Service beziehen.

Je transparenter der Betrieb der IT-Infrastruktur und des Gebäudes, die Sicherheitsmaßnahmen und so weiter sind, desto transparenter sind auch die Kosten.

Der Markt für Rechenzentren ist hart umkämpft. Wie können Betreiber die Rentabilität steigern und dennoch maximale Verfügbarkeit gewährleisten?

 

In einem Wort: Mit Transparenz. Denn je transparenter der Betrieb der IT-Infrastruktur und des Gebäudes, die Sicherheitsmaßnahmen und so weiter sind, desto transparenter sind auch die Kosten. Und auf dieser Basis lassen sich auch potenzielle Optimierungen identifizieren. Diese Überzeugung liegt zumindest unserem Lösungs- und Serviceportfolio zugrunde, der sogenannten Integrated Data Center Management Suite. Sie umfasst alle nötigen Elemente – vom Gebäudemanagement über das Data Center Infrastructure Management (DCIM) bis zu Tools zur Performanceoptimierung.

Obwohl Public- und Hybrid-Clouds immer populärer werden, bleiben die Sicherheitsbedenken. Zu Recht?

 

Ganz egal, welche Digitalisierungsstrategie ein Unternehmen verfolgt, muss die Sicherheit immer an erster Stelle stehen – sowohl im Sinne von physischer Sicherheit als auch im Sinne von Cybersecurity. Um die Risiken zu minimieren, ist wiederum Transparenz entscheidend. Wer hat wann welche Daten abgerufen? Wer ist wofür zugriffsberechtigt? Und wann? Wer diese Fragen beantworten kann, ist auf dem richtigen Weg.

Die 5G-Technologie ermöglicht es, die Digitalisierung dort zu beschleunigen, wo noch keine schnellen Datenleitungen existieren. 

Rechenzentren müssen nicht nur vor Cyberangriffen geschützt werden, sondern auch vor Einbrechern und physischen Angriffen auf die Infrastruktur. Wie groß ist das Risiko solcher Attacken?

 

Während die Zahl der Cyberangriffe nach wie vor steigt, nehmen die Attacken auf die physische Infrastruktur ab. Zum Glück, denn sie können enormen Schaden anrichten. Im schlimmsten Fall könnte ein Rechenzentrum ganz ausfallen. Das hat nicht nur drastische finanziellen Folgen, sondern führt auch zu einem Verlust von Kundenvertrauen. Um solche Horrorszenarien zu verhindern, ist ein ganzheitliches Sicherheitskonzept zu empfehlen, das den gesamten Lebenszyklus der Infrastruktur berücksichtigt und die vier Dimensionen Mensch, Technologie, Prozess und Zeit umfasst. Das Gute an einem solchen Ansatz ist, dass er zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt, indem er sowohl die Gefahr von physischen Angriffen als auch von Cyberattacken minimiert.

Aktuell reden alle über die 5G-Technologie. Hat die Glasfaserinfrastruktur bald ausgedient?

 

Nein, natürlich nicht! Glasfaser ist die Lebensader der Branche, ohne die keine großes Rechenzentrum auskommt. In Gebieten, wo Glasfaserleitungen vorhanden sind, schreitet die Digitalisierung rasant voran. Dort entstehen neue Rechenzentren, die wiederum wirtschaftliches Wachstum ermöglichen. Die 5G-Technologie sehe ich als eine Ergänzung zur Glasfaserinfrastruktur. Sie ermöglicht es, die Digitalisierung dort zu beschleunigen, wo noch keine schnellen Datenleitungen existieren. Auf Basis von 5G lassen sich Edge-Computing-Lösungen realisieren. So kann fehlende Infrastruktur ein Stück weit kompensiert werden.

Heute sind Akteure am Werk, die wie mittelständische Unternehmen organisiert sind und Cyberangriffe als Dienstleistung anbieten.

Welche neuen Risiken bringt 5G für die Datensicherheit?

 

Ich gehe nicht davon aus, dass sich mit 5G die Bedrohungsszenarien fundamental verändern. Die Richtung, in die es gehen wird, zeichnet sich schon heute ab. Was wir beobachten, ist eine Art Standardisierung der Cyberkriminalität. Früher waren Cyberkriminelle mehrheitlich Einzeltäter. Heute sind Akteure am Werk, die wie mittelständische Unternehmen organisiert sind und Cyberangriffe als Dienstleistung anbieten. Sie bedrohen das 5G-Netz genauso wie jede andere IT-Infrastruktur.

Rechenzentren benötigen enorm viel Energie. Welche Chancen gibt es, sie grüner zu machen?

 

Zum einen lassen sich Rechenzentren natürlich durch neuere Technologien und zum anderen durch die Veränderung von Prozessen optimieren. Beispielsweise die Kühlung, um den Energiebedarf zu reduzieren. Abwärme lässt sich nutzen, zum Beispiel zur Beheizung von anderen Gebäuden, Schwimmbäder oder Gewächshäuser. Das verringert den ökologischen Footprint. Man könnte aber auch bei der Energieversorgung ansetzen. Allerdings hat bei der Versorgung für die Betreiber die Zuverlässigkeit erste Priorität. Erneuerbare Energien sind daher für große Rechenzentren nicht ideal. Bei kleineren, dezentralen Anlagen sieht es anders aus. Tatsächlich haben wir in Frankreich bereits an einem Projekt mitgewirkt, bei dem auch Wind- und Sonnenenergie genutzt werden. Ich bin überzeugt, dass wir dank der Edge-Technologie mehr solche dezentralen Projekte sehen werden, die auch erneuerbare Energie nutzen.

31.07.2019

Bilder: Siemens AG

Zur Person

Bertrand Delatte leitet die Business Line Data Center Solution & Services Europa bei  SIEMENS seit September 2015. Er verfügt über umfangreiche internationale Erfahrungen in der Akquisition & Umsetzung von Projekten im Bereich kritischer Infrastrukturen. In den letzten Jahren hat er zusammen mit seinem Global Account Management Team die Expansion internationaler Kunden aus der IT- und Telekommunikationsbranche sowie der Sicherheitsindustrie unterstützt. Zusammen mit seinem engagierten Expertenteam treibt er die Entwicklung des Data-Center-Geschäfts mit dem Verständnis von Rechenzentren als „Fabriken des 21. Jahrhunderts“ europaweit voran.

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