"IoT verbessert unsere Lebensqualität"
Mit der Möglichkeit, Echtzeitdaten zu nutzen, verändern sich unsere Arbeit, unsere Industrien und unseren Alltag. IoT macht Städte effizienter und eröffnet neue Einkommensquellen, sagt WEF-Experte Jeff Merritt.
Jeff Merritt ist Experte für das Internet der Dinge (IoT) beim Weltwirtschaftsforum WEF. Und er ist überzeugt: Die aufkommende Technologie wird unser Leben verbessern. In einem Exklusivinterview erklärt er, wie das Internet der Dinge Effizienz fördert und zugleich neue Einkommensquellen für Unternehmen schafft.
Interview: Marc Engelhardt
Sie haben einmal gesagt, das Internet der Dinge lasse sich am besten als "Designsprache" verstehen. Was meinen Sie damit genau?
Jeff Merritt: Wenn man mit Echtzeitdaten arbeiten kann, ändert das grundlegend jeden Problemlösungsansatz. Bisher waren wir es gewohnt, erst die Lage zu analysieren und erst dann einen entsprechenden Plan zu machen. Mit Echtzeitdaten muss man aber keine Prognosen mehr anstellen. Man kann umgehend reagieren.
Wie genau wird das die Arbeitswelt verändern?
Wir müssen nicht mehr die ganze Komplexität unserer Tagesabläufe selbst bewältigen, vieles wird einfach automatisch passieren. Die Lichter am Arbeitsplatz gehen aus, wenn niemand mehr da ist, und alle Geräte im Raum wechseln in den Schlafmodus. Ich brauche keinen eigenen Arbeitsplatz mehr, weil ich in Echtzeit sehen kann, wer welchen Platz, welchen Raum, welches Gerät benutzt. Einige dieser Entwicklungen erleben wir heute schon, ohne dass wir uns klar machen, wie dramatisch dieser Wandel eigentlich ist.
Wenn man mit Echtzeitdaten arbeiten kann, ändert das grundlegend jeden Problemlösungsansatz.Jeff Merritt, IoT-Experte beim Weltwirtschaftsforum
Und wird dieser dramatische Wandel uns alle arbeitslos machen?
Nein. Miteinander verbundene Geräte werden unser Leben vereinfachen, so wie Mobiltelefone es getan haben. Stellen Sie sich vor, Sie sind Landwirt: Sie müssen nicht mehr raus aufs Feld gehen, um ihre Feldfrüchte zu überprüfen. Dafür haben Sie Sensoren im Boden und Luftaufnahmen, die von Drohnen gemacht wurden. So können Sie sofort erkennen, ob eine Krankheit ihre Ernte bedroht oder ob dem Boden Wasser oder Nährstoffe fehlen. Dank Echtzeitdaten können Sie den Ressourceneinsatz vermindern – Dünger, Wasser, einfach alles – und zugleich den Ernteertrag erhöhen.
Also wird das Internet der Dinge das Arbeitsleben verbessern?
Unbedingt! Wir haben im vergangenen Jahr in einer Studie die Auswirkungen von mehr als 300 IoT-Anwendungen untersucht. Und eines der vielversprechendsten Ergebnisse ist die Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden von Arbeitern. Wenn Sie Lastwagenfahrer sind, dann kann eine intelligente Uhr oder ein Armband Sie schützen, wenn Sie müde werden. Das gleiche gilt in einer Fabrik: Stellen Sie sich vor, es gibt einen Wasserrohrbruch oder einen plötzlichen Anstieg von Kohlenmonoxid. Oder Sie drohen auszurutschen oder zu fallen. Solche Gefahren können sofort erkannt und durch eine rechtzeitige Warnung verhindert werden.
Wie sieht es aus mit Effizienzgewinnen?
Die produzierende Industrie war eine der ersten, die den Nutzen von IoT erkannt hat. Einer der größten Effizienzgewinne besteht in der vorausschauenden Instandhaltung. Die garantiert, dass Teile von Maschinen ausgetauscht werden, wenn das nötig ist, noch bevor sie ausfallen. Das ändert ganze Produktionsabläufe. Außerdem werden wir dank IoT und dem 5G-Standard immer mehr kabellose Geräte und Maschinen nutzen. Das bedeutet, dass eine Fabrik in Echtzeit umgebaut werden kann, wenn sich Produktionsabläufe ändern. Die Maschinen lassen sich sehr einfach bewegen.
Welche neuen Geschäftsmodelle werden damit möglich?
Wir werden die Geschäftsmodelle in praktisch jeder Branche neu gestalten müssen. Denn wenn man wollte, könnte man Echtzeitdaten einsetzen und damit nicht mehr reaktiv, sondern vorausschauend operieren. Außerdem gibt es ganz neue Kooperationsmodelle, die durch digitale Zwillinge ermöglicht werden, also durch ein digitales Abbild einer physischen Umgebung. Wenn etwa eine Maschine in einer Mine irgendwo in Afrika ausfällt, kann man von überall auf der Welt umgehend eine Fehlerdiagnose durchführen und den Fehler sogar beheben – dank IoT geht das aus der Ferne.
Das klingt nach schier unbegrenzten Möglichkeiten.
Genau, und das ist vielleicht auch eine unserer größten Herausforderungen. Weil es so viele Möglichkeiten gibt, probieren wir alles Mögliche aus und setzen dabei unsere Ressourcen nicht immer optimal ein. Als Weltwirtschaftsforum versuchen wir hingegen, Investitionen aus Wirtschaft und Politik in Richtung erprobter Anwendungsfälle zu kanalisieren, die klare Vorteile für die Gesellschaft bieten. Wenn wir einfach nur alles bejubeln, was neu ist, schaffen wir ein Pilotprojekt nach dem anderen. Stattdessen sollten wir bei der Umsetzung das volle Potenzial einer Idee ausschöpfen.
Wo werden wir voraussichtlich die größte Auswirkung von IoT-Technologie sehen?
Städte werden sich durch IoT am meisten verändern – auch, weil die Urbanisierung ungebrochen voranschreitet. Jede Woche ziehen drei Millionen Menschen vom Land in die Städte. Der Druck auf städtische Dienstleistungen ist enorm. Die Auswirkungen sehen wir in Ländern wie Indien, wo alleine der Straßenverkehr ganze Städte und die dort beheimatete Wirtschaft lähmen kann. IoT kann Städte effizienter machen. Als ich in der Stadtverwaltung von New York gearbeitet habe, haben wir beispielsweise in alle Ampeln Fernsteuerungen eingebaut und gleichzeitig GPS-Sensoren in die Busse. Dann haben wir beides verbunden, so dass die Busse ihren Standort jetzt den Ampeln übermitteln. Die Ampel reagiert entsprechend, bleibt vielleicht länger grün, damit der Bus bevorzugt werden kann. Der Effekt: Wer mit dem Bus fährt, spart jetzt ein Fünftel der Zeit, wenn er zur Arbeit pendelt. Das ist ein echter Anreiz, vom Individualverkehr auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Zur Person
Jeff Merritt ist Experte für intelligente Städte, das Internet der Dinge, neue Technologien und Verwaltungsinnovation. Seit November 2017 ist er der Leiter des Programms für IoT, Robotik und intelligente Städte beim Zentrum Vierte Industrielle Revolution, das zum Weltwirtschaftsforum gehört. Zwischen 2014 und 2017 arbeitete er als erster Innovationsdirektor überhaupt in der Stadtverwaltung von New York, wo er unter anderem das Dezernat für Technologie und Innovation gründete. 2016 und 2017 wurde seine Arbeit beim Smart City Expo World Congress mit den Auszeichnungen "Best Smart City" und "Most Innovative Idea" ausgezeichnet. Mit seiner Frau und zwei Töchtern lebt er in San Francisco.
Wir werden die Geschäftsmodelle in praktisch jeder Branche neu gestalten müssen.Jeff Merritt, IoT-Experte beim Weltwirtschaftsforum
Was halten Sie für die größte Herausforderung?
Die enorme Komplexität. Unsere Abläufe auf Echtzeit umzustellen bedeutet einen nichts weniger als einen Paradigmenwechsel. Wir müssen außerdem strategisch denken, wenn es um die Verknüpfung getrennter Systeme und Probleme geht. Wenn Sie auf der Straße Kameras installieren, dann können Sie die nutzen, um Autos oder Fußgänger zu zählen, oder um frühzeitig Anzeichen für terroristische Aktivitäten zu erkennen. Man kann aus einem einzelnen Gerät viel herausholen, wenn man einen ganzheitlichen Blickwinkel wählt. Den größten Nutzen erzielen wir dann, wenn wir verschiedene Anwendungsbereiche so miteinander kombinieren, dass eine smarte Stadt, eine smarte Fabrik, ein smarter Bauernhof entsteht.
Was begeistert Sie am meisten an einer Zukunft, die durch IoT geprägt ist?
Die potentielle Auswirkung auf unsere Lebensqualität. Unsere Untersuchung hunderter IoT-Anwendungen hat gezeigt, dass 84 Prozent von ihnen entweder direkt zum Erreichen der UN-Nachhaltigkeitsziele beitragen oder zumindest das Potenzial dazu haben. Und das, obwohl diese Anwendungen ursprünglich nur ein Ziel hatten: Unternehmen Geld zu sparen. Das tun sie tatsächlich auch. Und sie haben außerdem den Energieverbrauch verringert, Umweltverschmutzung eingedämmt und die Produktivität erhöht. Wir haben so lange darüber debattiert, dass man Dinge tun müsste, die gut sind für die Erde und die Wirtschaft. IoT macht uns das Erreichen dieses Ziels wirklich leicht.
Und müssen wir noch lange warten?
Nein. Wir sehen derzeit, wie weitreichende Ziele zur Bewältigung des Klimawandels verabschiedet werden, und wenn wir uns wirklich darauf konzentrieren, können wir einige dieser Ziele in wenigen Jahren erreichen. Wenn Sie ein Gebäude mit einem smarten Energiesystem ausstatten und ihre Energienutzung kontrollieren, dann hat das umgehend eine Reduzierung ihres Stromverbrauchs um 20 Prozent zur Folge. Automatisierte Prozesse, die auf Echtzeitdaten beruhen, schaffen solche Effizienzgewinne sofort.
Eine Studie vom Januar 2018 über 1.600 IoT-Lösungen in Unternehmen ergab folgende Verteilung nach Sektoren (IoT-Projekte im Bereich “Smart City” machten 23 Prozent der Gesamtzahl aus):
- Verkehr: 39%
- Versorgungsbetriebe: 22%
- Beleuchtung: 21%
- Umweltüberwachung: 18%
- Öffentliche Sicherheit: 17%
- Ladestationen für Elektrofahrzeuge: 1%
- Andere: 6%
Quelle: IoT Analytics
Marc Engelhardt berichtet aus Genf über die UN, internationale Organisationen und globale Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Energiefragen. Er hat als Korrespondent für zahlreiche Medien gearbeitet, darunter die Neue Zürcher Zeitung, ARD, und Die Zeit.
Bilder: Siemens AG, World Economic Forum
2019-11-04
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