Mehr erneuerbare Energie durch innovative Systemführung
Wie Automatisierung zu einer höheren Netzauslastung beitragen kann.
Die Energiewende will jeder, neue Stromtrassen vor der Haustür keiner. Doch um mehr und mehr dezentral erzeugten Strom aus erneuerbaren Quellen zu übertragen, müssen die Netze über Jahre hinweg ausgebaut werden. Im Forschungsprojekt InnoSys 2030 suchen deutsche Netzbetreiber nach innovativen Ansätzen für den Betrieb der Stromnetze. Das Ziel: das vorhandene Netz bei gleichbleibender Sicherheit höher auszulasten – mit Hilfe von automatisierten Assistenzsystemen.
Plötzlich blinkt es auf den riesigen Bildschirmen in der Netzleitwarte. Ein heftiger Sturm hat einen Baum entwurzelt und eine Freileitung beschädigt. Das System nimmt den Abschnitt sofort vom Netz. Andere Leitungen müssen jetzt übernehmen. Das geht nur gut, wenn sie nicht schon jetzt voll ausgelastet sind.
„Dass wir in Deutschland so wenige Stromausfälle haben, derzeit etwa nur 14 Minuten pro Verbraucher im Jahr, liegt daran, dass die Netzbetreiber für jede Leitung, jeden Transformator, jedes Gerät im Netz ein Backup, eine Redundanz vorhalten. Experten sprechen hier von einer präventiven (n-1)-Sicherheit“, erklärt Chris Heyde, Netzplaner bei Siemens. „Das Ergebnis ist, dass immer Redundanzen vorgehalten werden müssen, für wenige Zeiten an denen ein Ausfall passiert“, ergänzt sein Kollege Pascal Wiest.
Heyde und Wiest gehören zum Team, das derzeit neue Lösungen entwickelt und testet. Ihr Ansatz im staatlich geförderten Forschungsprojekt InnoSys2030: automatisierte, kurative, punktgenaue Maßnahmen. Diese sollen Netzbetreibern helfen, künftig mit den geplanten und bestehenden Leitungen noch besser auszukommen, indem zusätzlich kurativ nur bei tatsächlicher Überlastung in den Betrieb eingegriffen wird eingegriffen wird. In diesem Fall würden dann binnen kürzester Zeit zum Beispiel Windkraftanlagen gedrosselt oder Batteriespeicher zugeschalten, um den überschüssigen Strom aufzunehmen.
Schnellere Reaktion statt Redundanzen
„Wir gehen davon aus, dass selbst ein erfahrener Mitarbeiter ohne Assistenzsysteme in der Leitwarte mindestens 15 Minuten braucht, um sich für eine der vielen möglichen Maßnahmen zu entscheiden. Das ist viel zu lang“, so Heyde, Wiest schließt an: „Durch die Energiewende werden die Netze sowie deren Betrieb immer komplexer. Genau da setzen Assistenzsysteme an, sie schlagen dem Operator geeignete kurative Maßnahmen vor – oder können diese in einer späteren Ausbaustufe auch vollautomatisch ausführen. So bleibt das Netz sicher – und das mit weniger kostspieligen Betriebseingriffen und Redundanzen."
Durch die Energiewende werden die Netze sowie deren Betrieb immer komplexer. Genau da setzen Assistenzsysteme an.Pascal Wiest, Netzplaner bei Siemens
Doch so weit ist das Projektteam noch nicht. Auch wenn es erste Erkenntnisse aus dem Vorläuferprojekt DynaGridCenter gibt, muss die Theorie nun in die Praxis überführt werden. Welche Zu- oder Abschaltmaßnahmen in Verbindung mit welchen Technologien in welchen Szenarien grundsätzlich möglich sind, haben Heyde und Wiest mittlerweile für die Assistenzsysteme definiert. Nun sind die Uni-Partner und Forschungseinrichtungen dran. Sie schauen sich in Simulationen an, wie oft kurative Maßnahmen überhaupt notwendig werden könnten, und ob die Schaltstrategien im Computermodell grundsätzlich funktionieren.
Immer komplexere Netze
„Mir hat das Projekt die Augen geöffnet“, sagt Heyde, „Die Technik ist nicht das Problem, die Technik ist da und funktioniert. Der Knackpunkt ist, die Maßnahmen mit geeigneten Prozessen netzbetreiberübergreifend zu koordinieren. Je komplexer das Netz, umso komplexer die Maßnahmen. Das macht die Konzeptionierung von Assistenzsystemen in diesem Bereich so schwierig“, ergänzt er und bringt folgenden Vergleich: Während ein Fahrerassistenzsystem in einem Auto nur die Steuerung eines Fahrzeugs koordiniere, müsse es dem Assistenzsystem einer Leitwarte gelingen, auf einer Autobahn sämtliche Autos zuverlässig zu steuern.
Zeitgleich zu den Simulationen an der Uni bereitet ein Team von Siemens in Ilmenau die Leitwarte vor, an der im nächsten Schritt die Überprüfung der Assistenzsysteme unter Realbedingungen getestet werden soll. „Dann wird’s richtig spannend“, sagt Wiest. „Im so genannten Demonstrator sehen wir dann im Zusammenspiel mit Siemens-Technologien wirklich, ob das Assistenzsystem auch macht, was es machen soll und ob es wirklich gelingt, die Netze in dieser Form besser auszulasten.“
Die Technik ist nicht das Problem, die Technik ist da und funktioniert. Der Knackpunkt ist, die Maßnahmen mit geeigneten Prozessen netzbetreiberübergreifend zu koordinieren.Pascal Wiest, Netzplaner bei Siemens
Im Demonstrator wird nur das Verhalten des Stromnetzes simuliert, alles andere ist „echt“. So kommen in Ilmenau sowohl Schutz- und Fernwirkgeräte als auch Netzleitsysteme von Siemens zum Einsatz.
Die im Projekt gefundenen Lösungsansätze sind nicht nur im deutschen Übertragungsnetz anwendbar. Überall dort, wo zunehmend mehr erneuerbare Erzeugung eingespeist wird, können weitere Assistenzsysteme im Netzbetrieb helfen, eine Überlastung der Netze zu vermeiden. Doch auch in Netzen mit häufigeren Betriebsmittelausfällen und Extremsituationen, können sie wertvolle Entscheidungshilfen für einen sicheren Netzbetrieb liefern. Darüber hinaus können die Lösungsansätze auch auf Verteilnetze und sogar Stadtnetze übertragen werden.
Im Kern besteht der größte Demonstrator im Projekt aus dem Leitsystem Spectrum Power 7 von Siemens. Zusätzlich analysiert das Software-Tool Siguard DSA (Dynamic Security Assessment) die dynamische Netzstabilität und bewertet die kurativen Maßnahmen, während Siguard PDP (Phasor Data Processor) für die Netzüberwachung mit Synchrophasoren eingesetzt wird. Die Prozessdaten werden in Echtzeit in der Netzsimulationssoftware PSS Sincal erzeugt und mittels Protokollgateway an das Leitsystem übertragen. Auch die Steuersignale werden in die Simulationssoftware mittels Fernwirkprotokoll übertragen.
InnoSys 2030
InnoSys 2030 ist ein Verbundforschungsprojekt mit 17 Partnern. Alle vier großen Übertragungs- und einige Verteilnetzbetreiber, Universitäten und Forschungsinstitute sowie Siemens untersuchen gemeinsam Möglichkeiten zur Höherauslastung des Netzes. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert, hat im Oktober 2018 begonnen und dauert drei Jahre.
30. November, 2020
Bilder: Siemens AG
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