Situationsbewusstsein hilft bei der Integration von Erneuerbaren und reduziert CO2 

Warum Kaliforniens Netzbetreiber California ISO einen Echtzeit-Energiegroßhandelsmarkt aufbaute, um mehr erneuerbare Energie ins Netz aufzunehmen.

Ein neues Energiemanagementsystem bietet California ISO mehr Funktionalität. Damit bewältigt der unabhängige Netzbetreiber in Kalifornien die Herausforderungen der Einbindung von immer mehr erneuerbarer Energie und integriert neue Energietechnologien – ganz im Einklang mit dem Dekarbonisierungsziel des US-Bundesstaates.

 

Von Justin Gerdes

„Wenn du ein Problem nicht lösen kannst, vergrößere es.“ Dieser Aphorismus, der dem ehemaligen US-Präsidenten Dwight Eisenhower zugeschrieben wird, beschreibt die Strategie des kalifornischen Stromnetzbetreibers für die Lösung eines drohenden operativen Problems treffend. Dank ehrgeiziger staatlicher Richtlinien ist Kalifornien zu einem weltweiten Vorreiter für saubere Energie geworden. Per Gesetz soll der Staat bis 2045 über ein dekarbonisiertes Stromnetz verfügen. Ende 2019 stammten 36 Prozent des Stroms in Kalifornien aus erneuerbaren Energiequellen, darunter 6.000 Megawatt (MW) Windkraft und 12.000 MW Photovoltaik. 

Die Teilnehmer des Western EIM sind über neun Bundesstaaten verteilt – und diese geografische Vielfalt schafft Effizienzvorteile.
Hani Alarian, Executive Director, Power System Technology Operations bei California ISO

Vor etwa einem Jahrzehnt, als der Anteil dieser volatilen erneuerbaren Energiequellen an der installierten Stromkapazität anfing stetig zu wachsen, begann California ISO – zuständig für die Sicherstellung der Stabilität des Hochspannungs-Übertragungsnetzes – sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie ein immer höherer Anteil an erneuerbaren Energien in das Netz integriert werden kann.

 

Die gesetzlich vorgeschriebenen Emissionsreduzierungen schlossen den Rückgriff auf konventionelle Quellen für den Lastausgleich – wie neue Kohle- oder Gaskraftwerke – aus. Mittags, wenn Kaliforniens wachsende Flotte von Photovoltaik-Großanlagen Strom in Spitzenleistung erzeugt, bleibt den Netzbetreibern manchmal nichts anderes übrig, als die Leistung einzelner Solarkraftwerke zu drosseln, um das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage im Netz aufrechtzuerhalten.

Energiegroßhandel in Echtzeit...

Die California ISO schuf daraufhin einen Markt, um Strom nicht nur innerhalb Kaliforniens, sondern im gesamten Westen der USA zu handeln. Der Western Energy Imbalance Market (EIM) wurde 2014 lanciert. Dieser Echtzeit-Energiegroßhandelsmarkt ermöglichte es, Drosselungen zu vermeiden, weil die kostengünstigsten Energieressourcen – bei denen es sich meistens um die Erneuerbaren handelt – nun im gesamten Westen der USA gehandelt werden. Mit den neuen Mitgliedern, die dem Markt in den nächsten zwei Jahren beitreten werden, wird der Western EIM 82 Prozent der Gesamtlast des Western Electric Coordinating Council (WECC) abdecken.

„Die Teilnehmer des Western EIM sind über neun Bundesstaaten verteilt – und diese geografische Vielfalt schafft Effizienzvorteile“, erklärt Hani Alarian, Executive Director, Power System Technology Operations, California ISO, in einem Interview. „Sie können in Echtzeit exportieren und importieren.

 

Wenn also ein Unternehmen eine kostengünstigere Energiequelle hat, die es für die Deckung der eigenen Nachfrage nicht benötigt – wie z. B. Solarenergie –, kann es diese zum Lastausgleich an einen anderen Netzbetreiber übertragen. Damit spart das Versorgungsunternehmen einerseits Geld und es vermeidet zusätzlich, dass die Erzeugung aus erneuerbaren Energien gedrosselt werden muss.“

 

Seit dem Start im Jahr 2014 hat der Western EIM den teilnehmenden Energieversorgern so wirtschaftlichen Nutzen in Höhe von 1,18 Milliarden US-Dollar beschert. Durch die Erleichterung der Übertragung von kohlenstofffreiem Strom, der sonst möglicherweise gedrosselt worden wäre, wurden die kumulierten CO2-Emissionen um insgesamt 586.553 Tonnen reduziert. In den vergangenen fünf Jahren haben die Teilnehmer des Western EIM 1,3 Gigawattstunden (GWh) an erneuerbarer Energie genutzt, die andernfalls gedrosselt worden wären.

... und ein ausgeklügeltes Energiemanagementsystem

Einige Jahre nach dem Start des Western EIM übernahm California ISO im Jahr 2019 die Rolle des Koordinators für die Stabilität des Stromnetzes für mehr als 40 Verteilnetzbetreiber in 14 westlichen US-Bundesstaaten sowie Nordmexiko. Der Reliability Coordinator (RC West) der California ISO bietet den Mitgliedern Dienstleistungen für die Stabilität der Stromversorgung in Übereinstimmung mit bundesstaatlichen und regionalen Standards, wie z. B. Stromausfall-Management, Day-Ahead-Planung, Echtzeit-Bewertung, -Überwachung und -Analyse sowie die Koordination der Systemwiederherstellung.

 

Für sein Stromnetz benötigte Kalifornien ein skalierbares Betriebssystem, das mit seiner zunehmenden geografische Ausdehnung mitwächst. Nach fünf Jahren Machbarkeitsstudie, Ausschreibung, Design und Implementierung ging das neue Energiemanagementsystem, Siemens Spectrum Power 7, im Oktober 2019 in Betrieb. RC West wurde einen Monat später lanciert.

California ISO verfügt nun über ein ausgeklügeltes Energiemanagementsystem mit der notwendigen Funktionalität, um die Anforderungen eines sich entwickelnden Netzes zu erfüllen.
Hani Alarian, Executive Director, Power System Technology Operations bei California ISO

„California ISO verfügt nun über ein ausgeklügeltes Energiemanagementsystem mit der notwendigen Funktionalität, um die Anforderungen eines sich entwickelnden Netzes zu erfüllen“, sagt Alarian. „Das System bietet mehr Details und eine verbesserte Datengenauigkeit, die unseren Betreibern die Informationen liefert, die sie für ihre Entscheidungen benötigen.“

 

„Die Dimensionierung hat sich verfünffacht – von ausschließlich Kalifornien auf den gesamten Westen der USA“, fügt Alarian hinzu. „Und während der Western EIM weiter expandiert, speisen wir das Modell mit immer mehr Details und erhöhen so die Genauigkeit.“

 

Ein weiterer entscheidender Vorteil, den das neue EMS bietet, so Alarian, ist der Einbau einer Datenzugriffsschicht in das System. „Diese Verbesserung bietet den Betreibern eine Schnittstelle, die Daten aus jeder Anwendung auf demselben Display im EMS darstellen kann.“ Er fährt fort: „Damit verfügen die Betreiber über eine leistungsstarke Darstellungsmöglichkeit, denn jetzt können sie Marktdaten über einem Liniendiagramm, über geografischen und raumbezogenen Daten sehen – und alles auf einem Display.“

Wettergeschehen in Echtzeit verfolgen

Das ursprüngliche EMS von California ISO enthielt keine Geo-Informationen; das neue System hingegen bietet nun Funktionen, um diese Daten zu integrieren. Da immer mehr variable erneuerbare Energien in ihrem Gebiet und darüber hinaus in Betrieb genommen wurden, benötigten die kalifornischen Netzbetreiber nämlich Wetterinformationen in Echtzeit. „Wenn den ganzen Tag die Sonne scheint, oder wenn es nur leicht bewölkt oder aber vollständig bedeckt ist – das hat Auswirkungen auf die Erzeugung“, sagt Alarian. „Es ist wichtig, dass die Netzbetreiber über den Bedeckungsgrad des Himmels mit Wolken, die Windgeschwindigkeit und die Windrichtung Bescheid wissen, um schnell auf die erzeugte Strommenge aus erneuerbaren Energien reagieren zu können.“

Es ist wichtig, dass die Netzbetreiber über Bewölkung,  Windgeschwindigkeit und -richtung Bescheid wissen, um schnell reagieren zu können.
Hani Alarian, Executive Director, Power System Technology Operations bei California ISO

Neben dem Wetter müssen die Netzbetreiber auch die Waldbrände in Kalifornien und im Westen der USA im Blick behalten. „Brände in der Nähe von großen Übertragungsleitungen stellen den Netzbetrieb vor große Herausforderungen. Die Betreiber müssen wissen, wie nah die Feuer an die Übertragungsleitungen herankommen, um auf das Risiko reagieren zu können“, so Alarian. Echtzeitinformationen über das Wettergeschehen, die Brandgefahr und andere Umweltfaktoren helfen den Technikern in der Leitwarte, bessere Entscheidungen zu treffen und die Netz-Stabilität zu gewährleisten.

 

„Mit dem ausgeklügelten Energiemanagementsystem hat sich das Situationsbewusstsein unserer Leitwartentechniker verbessert“, so Alarian. „Wir versuchen, so schnell wie möglich so viele Informationen wie möglich zu liefern – Daten, Bilder und Videos von Problemen.“

Bis zu 10.000 Szenarien pro Durchlauf

Um die Stabilität aufrechtzuerhalten, müssen Netzbetreiber ständig Angebot und Nachfrage abgleichen. Wenn man die Leitwarte mit umfassenderen, für die Stromprodution relevanten Daten ausstattet, die in kürzeren Abständen aktualisiert werden, können besser informierte Entscheidungen getroffen werden. Zu diesem Zweck werden sich zukünftige Weiterentwicklungen des EMS, so Alarian, auf Leistung und Geschwindigkeit konzentrieren. „Leistung“ bezieht sich in diesem Zusammenhang darauf, wie schnell die Zustandsberechnung und die Echtzeit-Kontingenzanalyse laufen.

 

„Wie wollen die neuesten Fernmesswerte für die Zustandsberechnung“, sagt er. „Je schneller man die Berechnung dieser Szenarien laufen lässt und je öfter man sie ausführt, desto näher rückt das Resultat an die Realität.“

Im neuen System lassen wir alle dreieinhalb Minuten die für die Stromproduktion relevanten Szenarien durchlaufen. 
Hani Alarian, Executive Director, Power System Technology Operations bei California ISO

Mehr Szenarien ergeben ein stabileres Netz

Das neue EMS der California ISO hat die tägliche Kapazität zur Berechnung von Szenarien deutlich erhöht. Das alte System war auf nur 2.000 Szenarien beschränkt, die alle 10 Minuten aktualisiert wurden.

 

„Im neuen System lassen wir alle dreieinhalb Minuten die für die Stromproduktion relevanten Szenarien durchlaufen. Und wir würden den Takt gerne sogar auf alle zwei Minuten verringern“, so Alarian. „Das neue EMS kann etwa 10.000 Szenarien pro Durchlauf bearbeiten. Es würde mich nicht erstaunen, wenn wir in Zukunft auf 15.000 oder sogar 20.000 Szenarien erhöhen würden“, fügt er hinzu. 

California Independent System Operator (ISO) sorgt für die Stabilität eines der größten und modernsten Stromnetze der Welt und betreibt einen transparenten, zugänglichen Energie-Großhandelsmarkt. Die Organisation arbeitet rund um die Uhr daran, den Strombedarf der Verbraucher zu decken und gleichzeitig den Anteil an erneuerbaren Energien zu erhöhen, um das sauberes, grüne Stromnetz der Zukunft zu schaffen.

3. Mai 2021

 

Autor: Justin Gerdes ist ein preisgekrönter Energiejournalist und lebt in der San Francisco Bay Area. Er ist US-Senior-Korrespondent für Energy Monitor, eine Online-Publikation über die globale Energiewende. 

 

Bilder: California Independent System Operator Corporation, Getty Images, Siemens AG

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