Vom Wert der Dekarbonisierung in Städten

Kristen Panerali vom Weltwirtschaftsforum erklärt, wie CO2-freie Städte für bessere Lebensqualität sorgen.

Gebäude, Energieinfrastruktur, Verkehr: Es braucht die Zusammenarbeit aller Bereiche, um eine Stadt CO2-neutral zu machen. Davon profitiere dann nicht nur das Klima, ist Kristen Panerali überzeugt. Sie rät, das Augenmerk nicht primär auf die Kosten zu richten, sondern vor allem auf wertschaffende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt oder die öffentliche Gesundheit. Grid Edge-Technologien, die systemische Effizienz ermöglichen, sind dabei ein integraler Bestandteil.

 

Von Marc Engelhardt

Wenn man über die CO2-Neutralität von Städten spricht, dann stellen sich zwei Fragen: Warum braucht man sie? Und wie soll sie erreicht werden? Kristen Panerali, die beim Weltwirtschaftsforum (WEF) das Programm für Stromwirtschaft und ein weiteres für CO2-neutrale Städte leitet, hat Antworten auf beide Fragen parat: „Zunächst einmal sind Städte Mittelpunkt des globalen Energieverbrauchs: Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, in denen 78 Prozent des weltweiten Primärenergieverbrauchs stattfinden.“

 

Mehr als 70 Prozent der CO2-Emissionen stammen aus Städten, hat die Weltbank im Dezember 2020 berechnet, „darin enthalten sind Gebäude, Energie und Verkehr.“ Das führt Panerali geradewegs zur Antwort auf die zweite Frage: „Wir haben also Gebäude, Energieinfrastruktur, Verkehr – entscheidend ist, diese Sektoren miteinander zu vernetzen.“

Wenn wir über systemische Effizienz sprechen, dann sprechen wir über einen Mechanismus, der emissionsfreie Elektrifizierung, intelligente Energieinfrastruktur und digitale Technologie in einem Netzwerk zusammenführt.
Kristen Panerali

Systemische Effizienz

In gewisser Weise gehe es darum, die Stadt als ein Ökosystem aus komplexen, aber miteinander verwobenen Teilen zu verstehen, sagt Panerali: „Die Stadt als Ökosystem ist ein Zentrum des Energiebedarfs, und Unternehmen, Gebäude und Verkehr als große Energieverbraucher sind alle an einem Ort versammelt.“

 

Gibt es in einer Stadt Rechenzentren oder Kaffeeröstereien? Dann sollte die Abwärme ins Fernwärmenetz eingespeist werden. Städter fahren immer häufiger mit E-Autos zur Arbeit? Dann gilt es sicherzustellen, dass sie zum bestmöglichen Zeitpunkt des Tages aufgeladen werden, um das Gesamtsystem optimal auszulasten. „Das heißt: Wenn wir über systemische Effizienz sprechen, dann sprechen wir über einen Mechanismus, der emissionsfreie Elektrifizierung, intelligente Energieinfrastruktur und digitale Technologie in einem Netzwerk zusammenführt.“

Das klingt logisch. Doch wenn Panerali mit Akteuren im städtischen Raum spricht, dann berichten sie ihr oft, dass sie bisher losgelöst von einander operieren. „Kraftwerksbetreiber sprechen nicht mit Bauunternehmern, Gebäudeeigentümer nicht mit den Verkehrsunternehmen. Dabei wäre das so wichtig, um Lösungen zu finden, die mehreren Zielen auf einmal dienen.“

 

Einer der wesentlichsten Gründe dafür ist, dass es in einem zunehmend elektrifizierten Umfeld besonders wichtig ist, die Verbrauchsseite einzubeziehen, um CO2-Neutralität zu erreichen. „Bisher ist es so, dass die Energieversorgung die Nachfrage befriedigt. Perspektivisch wird diese Einbahnstraße durch ein System ersetzt, dass dank Digitalisierung in beiden Richtungen funktioniert. Zur smarten Energieinfrastruktur gehören dann Häuser und Autos, und damit hat man die Flexibilität, Energie zum optimalen Zeitpunkt zu verbrauchen.“

Bisher ist es so, dass die Energieversorgung die Nachfrage befriedigt. Perspektivisch wird diese Einbahnstraße durch ein System ersetzt, dass dank Digitalisierung in beiden Richtungen funktioniert.
Kristen Panerali

Bereits 2017 sagte das WEF voraus, dass Grid Edge-Technologien die Welt der Energie transfomieren würden. Gerade die Elektrifizierung von Sektoren wie Verkehr und Wärmeerzeugung, die auf Erneuerbaren basiert, wird zunehmend als wichtiger Pfad zur Dekarbonisierung erkannt, wie Panerali beschreibt.

Ultraeffiziente, intelligente Gebäude

Man stelle sich ein Gebäude vor, dessen Klima- und Lichtanlage sich dank entsprechender Technologie in Echtzeit an die Belegung anpasst – oder an ein Gebäude, das Managementsysteme und Nachfrageaggregatoren besitzt und so im Stromnetz mehr Flexibilität und andere Dienstleistungen ermöglichen kann.

 

Solche ultraeffizienten Gebäude sind entscheidend, um eine Stadt CO2-neutral zu machen. So steht es in der jüngst veröffentlichten WEF-Studie “Net zero carbon cities: An integrated approach”. Solche smarten Gebäude könnten ihren aus erneuerbaren Energiequellen gewonnenen Strom zudem lokal verteilen oder über das Netz einspeisen. Der Fokus auf Gebäude ist sinnvoll, denn sie sind für 40 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Drei Viertel davon stammen aus dem Betrieb, zehn Prozent aus dem Bau und den dafür verwendeten Materialien.

Wir konzentrieren uns zu oft nur darauf, was eine Lösung kostet, ohne dass wir etwa Arbeitsplatzeffekte oder massive Einsparungen im Gesundheitssystem miteinbeziehen.
Kristen Panerali

Ultraeffiziente, vernetzte Gebäude verfügen über eine intelligente Energieinfrastruktur und intelligente Stromzähler, ein sicheres und effizientes Verteilernetz und Ladestationen für Elektroautos. Die verwendeten Baumaterialien sind kohlenstoffarm und leistungsstark; ihren Strom beziehen sie aus erneuerbaren Energiequellen.

 

Das erfordert natürlich Investitionen, wie Panerali erklärt. „Aber viele Vorreiter schauen nicht mehr auf die Kosten, wenn sie geschäftliche oder politische Entscheidungen treffen, sondern messen den Erfolg an der umfassenden Wertschöpfung. Dieser Perspektivwechsel hilft der Umwelt und belebt das Wirtschaftswachstum.“

Auf Wert statt Kosten achten

Während der ersten Coronawelle diskutierte eine Gruppe von WEF-CEOs darüber, inwiefern die Energiewende nicht nur wertvoll für die Verminderung von Treibhausgasemissionen, sondern auch für die Wirtschaft und die Energiewirtschaft sein könnte. Das Ergebnis: Ein neuer Rahmen, der Entscheidungsträgern helfen soll, die richtigen Schritte zu gehen.

 

Der „Systemwert-Rahmen“ berücksichtigt ein Dutzend Dimensionen, von denen jede für ein bestimmtes gewünschtes Ergebnis steht. Jedes Ergebnis wiederum hat einen bestimmten Wert für die Umwelt, die Wirtschaft, die Gesellschaft oder die Energiewirtschaft. Wird dieser Rahmen auf eine Stadt angewendet, dann werden meist Emissionssenkungen, die Verbesserung der Luftqualität und die Schaffung von Arbeitsplätzen als die wichtigsten Ergebnisse festgelegt.

 

Eine solch umfassende Anaylse aber kann es nur geben, wenn man über den Tellerrand hinaus blickt und einen systemischen Ansatz verfolgt. „Wir konzentrieren uns zu oft nur darauf, was eine Lösung kostet, ohne dass wir etwa Arbeitsplatzeffekte oder massive Einsparungen im Gesundheitssystem miteinbeziehen“, betont Panerali.

In Europa etwa würde die Dekarbonisierung von Städten bis 2030 rund 680.000 Jobs in Berufsfeldern schaffen, die mit intelligenten Ladesystemen zu tun haben, mit der Installation effizienter Energietechnologie oder anderen Optimierungssystemen auf der Kundenseite. Gleichzeitig würden Emissionen in Höhe von 243 Megatonnen CO2 reduziert. Die Gesundheitseffekte durch bessere Luftqualität hätten zudem einen Wert von 14 Milliarden Euro.

 

In Brasilien könnten sogar eine Million Jobs bis 2025 geschaffen werden, unter anderem in der Erneuerung des Energienetzes und dem Bau intelligenter Häuser. Die CO2-Emissionen würden um bis zu 45 Megatonnen reduziert, die Gesundheitseffekte hätten einen Wert von 3,4 Milliarden US-Dollar.

Gemeinsam stärker

Die Zusammenarbeit der wichtigsten Akteure sei entscheidend, um Städte zu dekarbonisieren, betont Panerali. Das liegt auch daran, dass entscheidende Elemente – der Ausbau erneuerbarer Energiequellen, Netzausbau, Netzverbünde und Effizienzregulierungen – in der Hand von Dritten liegen.

 

„Die Herausforderungen sind zu groß, als dass sie von einem Sektor alleine bewältigt werden könnten. Beim WEF achten wir deshalb darauf, dass möglichst viele Akteure aus allen Sektoren involviert sind, seien sie aus Unternehmen, der Zivilgesellschaft, kommunalen oder nationalen Regierungen.“

 

Städte zu dekarbonisieren ist fraglos wichtig. Aber dies mit einer Wertschöpfung zu verbinden, von der die Gesellschaft als Ganzes profitiert, ist sogar noch wichtiger.

13. Juni 2021

 

Autor: Marc Engelhardt ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er berichtet über globale Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Energiefragen. Als Korrespondent hat er für zahlreiche deutschsprachige Medien geschrieben, darunter die Neue Zürcher Zeitung, die ARD und Die Zeit. 

 

Bilder: Getty Images, World Economic Forum, Siemens

Kristen Panerali leitet beim Weltwirtschaftsforum (WEF) das Programm für Stromwirtschaft. Nachdem sie 25 Jahre lang Erfahrung in der US-Regierung und der Energiewirtschaft gesammelt hat, liegt ihr Schwerpunkt nun darauf, die öffentliche Hand und Privatwirtschaft in die Lage zu versetzen, die effizientesten Politik-, Handlungs- und Kooperationsansätze zur Beschleunigung der Energiewende zu finden. Ihren MBA hat sie an der IESE Business School in Spanien erworben.

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