European Green Deal: „Der Status Quo ist keine Option“

Paula Pinho, Leiterin der EU-Direktion für erneuerbare Energien erklärt, warum das Erreichen der Dekarbonisierungsziele nebst neuer Technologie eine enge Zusammenarbeit mit dem Privatsektor erfordert.

Im Juli 2021 schlug die EU-Kommission Maßnahmen zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgestaltung der EU vor, um die im „European Green Deal“ dargelegten Klimaziele zu erreichen. Schlüsselelemente sind digitale Innovation, strenge Vorschriften und Zusammenarbeit zwischen Privatunternehmen und den öffentlichen Behörden, sagt Paula Pinho, Leiterin der Direktion „Gerechter Übergang, Verbraucher, Energieeffizienz und Innovation“ in der Generaldirektion Energie. 

 

Von Erika Claessens und Christian De Neef

Für Paula Pinho ist der Europäische Green Deal ein persönliches Anliegen. Am 17. März 2021 wurde sie zur Leiterin der Abteilung „Gerechter Übergang, Verbraucher, Energieeffizienz und Innovation“ in der EU-Generaldirektion Energie ernannt. Sie sagt: „Ich fühle mich geehrt, dass man mir die Verantwortung dafür übertragen hat, die Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Wir haben 30 Jahre Zeit. Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden, aber die Auswirkungen werden wir erst im Laufe der Zeit sehen. Eine Nettoreduktion der Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990 wird der entscheidende Faktor sein, wenn Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden soll.“ 

Eine Nettoreduktion der Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990 wird der entscheidende Faktor sein, wenn Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden soll.
Paula Pinho, Leiterin der Abteilung „Gerechter Übergang, Verbraucher, Energieeffizienz und Innovation“ in der EU-Generaldirektion Energie

Im Juli 2021 stellte die EU-Kommission die gesetzlichen Instrumente vor, die das Handeln der gesamten Wirtschaft grundlegend ändern sollen, um die im Europäischen Klimagesetz (European Climate Law) vereinbarten Ziele zu erreichen. Die notwendigen Maßnahmen sind klar, stellt Direktor Pinho fest: „Energieerzeugung und -verbrauch müssen anders angegangen werden. Angebot und Nachfrage müssen anders strukturiert werden. Bei diesem Prozess benötigen wir aktuelle und auch zukünftige Technologien. Natürlich wird dies mit Kosten verbunden sein, aber Untätigkeit hätte einen viel höheren Preis.“

 

Jenseits von Energie und Klima gehe es beim Green Deal um einen tiefgreifenden Wandel, von dem alle gesellschaftlichen Ebenen betroffen sind: die Industrie, die Bürger und Verbraucher, die Wissenschaft und der öffentliche Sektor. 

Innovative Technologien im Fokus

„In einem kürzlich erschienenen Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA) über Wege zu ‚Net Zero‘ wurde festgestellt, dass ein Net Zero-Ergebnis nur durch sofortige industrielle Innovation erreicht werden kann. Vergessen wir nicht, dass wir für die Hälfte der Emissionen, die wir einsparen müssen, noch nicht über kommerzielle Technologien verfügen“, meint Frau Pinho. „Innovation und Forschung gehören zu meinen Aufgaben in der Direktion. Sie sind entscheidend, um die Industrie zum sofortigen Handeln zu bewegen, zumindest wenn wir unsere Nachhaltigkeitsziele für 2030 erreichen wollen.“

 

Das EU-Forschungsfinanzierungsprogramm Horizon Europe stellt von 2021 bis 2027 einen beispiellosen Betrag von 95,5 Milliarden Euro für Investitionen in Forschung und Entwicklung innovativer Technologien bereit. Mit dieser öffentlichen Finanzierung möchte die EU private Akteure in verschiedenen Industriesektoren für eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene einspannen. 

Ohne die Zusammenarbeit mit privaten Akteuren wie Siemens wäre es schwierig, alle nötigen Technologien in Angriff zu nehmen, um unser European Green Deal-Ziel zu erreichen.
Paula Pinho

Frau Pinho ist überzeugt, dass Europa ohne Investitionen in die Industrie den grünen Wandel nicht rechtzeitig schafft. „Ich spreche vor allem Siemens als Erstausrüster an“, sagt sie. „Siemens hat das Know-how und die Erfahrung, um Technologien von der Forschung und Demonstration bis zum kommerziellen Einsatz zu bringen. Ohne die Zusammenarbeit mit privaten Akteuren wie Siemens wäre es schwierig, alle nötigen Technologien in Angriff zu nehmen, um unser European Green Deal-Ziel zu erreichen.“

 

Die EU-Kommission fördert eine Reihe von Partnerschaften und Allianzen mit europäischen Ländern, Industrien und der wissenschaftlichen Gemeinschaft, um diese Ziele zu erreichen. Dazu gehört auch die Europäische Batterie-Allianz (EBA). Batterien sind ein strategischer Bestandteil des sauberen und digitalen Wandels in Europa und eine Schlüsseltechnologie, die für die Wettbewerbsfähigkeit des Automobilsektors unverzichtbar ist.

Digitalisierung für ein ganzheitliches Konzept

Paula Pinho bestätigt, dass Energieeffizienz und Digitalisierung für ein ganzheitliches Konzept für das Energiesystem entscheidend sind, auch wenn es keine technologischen Patentlösungen gibt. „Ob es sich um intelligente Gebäude, intelligente Städte oder komplexe Industrieanlagen handelt, digitale Technologien werden Leistungsfähigkeit und Effizienz entscheidend verbessern. Digitale Technologien vernetzen und beeinflussen alle, von den Bürgern über die Behörden bis hin zu den Industrien.“

Ob es sich um intelligente Gebäude, intelligente Städte oder komplexe Industrieanlagen handelt, digitale Technologien werden Leistungsfähigkeit und Effizienz entscheidend verbessern.
Paula Pinho

Pinho weist darauf hin, dass die Digitalisierung während der Pandemie neue Arbeitsmodelle ermöglicht hat. „Hier finden wir ein gutes Beispiel dafür, wie Digitalisierung eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Verhaltensänderungen spielt. Digitale Technologien boten auf allen Ebenen Lösungen für einen neuen, globalen Ansatz im Homeoffice.“

 

Die Kehrseite der Medaille sind die Risiken, denen wir ausgesetzt sind, wie z. B. Cyberangriffe und die mögliche Verletzung der Datenschutzrechte: „Datenschutz ist wichtig. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich mit der zunehmenden Digitalisierung und den damit verbundenen Auswirkungen auf ihre personenbezogenen Daten wohl fühlen. Die Verarbeitung personenbezogener Daten muss sicher und/oder anonymisiert sein. Die EU war im Vergleich zu anderen Teilen der Welt schon immer Wegbereiterin und Expertin bei der Festlegung von Normen für den Datenschutz. Der Schutz der Privatsphäre ist einer unserer wichtigsten Werte.“

Verwaltung einer dezentralen und unbeständigen Ressource

Nicht nur die Digitalisierung, sondern auch die Dezentralisierung der Energieerzeugung bis hinunter zum einzelnen Bürger stellen das europäische Energiesystem vor Herausforderungen. Auch hier ist Direktorin Pinho davon überzeugt, dass der Nutzen die Risiken bei weitem überwiegen wird: „Die Vernetzung unseres Energiesystems ist ein klarer Pluspunkt für die EU und etwas, woran wir seit vielen Jahren arbeiten. Und auch die möglichen Schwachstellen, denen wir durch die Digitalisierung ausgesetzt sind, werden wir über Vernetzung besser beheben können.“

 

Und weiter: „Die Unbeständigkeit einiger erneuerbarer Energiequellen stellt die Netzbetreiber vor besondere Aufgaben, da sie die Stabilität des Systems aufrechterhalten müssen. Wir haben wahrscheinlich das größte zusammenhängende Stromnetz der Welt, was auch ein Vorteil für die EU ist.“ Diesbezüglich wird die Zusammenarbeit zwischen den lokalen Betreibern entscheidend sein. Dies bedeutet erhebliche Investitionen auf ihrer Seite, aber wahrscheinlich auch die Möglichkeit, neue Dienstleistungen zu erbringen. 

Der Impuls zur Dekarbonisierung

Die Dekarbonisierung kann nur gelingen, wenn die politischen Rahmenbedingungen und die Arbeit der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in der Industrie sich ergänzen. Paula Pinho appelliert an die Industrie, sich finanziell zu beteiligen, um gemeinsam mit den Behörden in Europa die technologische Kluft zu überbrücken: „Wir können die gesellschaftliche Energiewende nicht ohne die europäische Industrie schaffen. Aber ich bin zuversichtlich, was die Zahl der Unternehmen angeht, die sich zu Net Zero verpflichten. Jetzt haben wir eine echte Dynamik erreicht.“ 

Es ist sehr vielversprechend zu sehen, dass sich viele Branchen, darunter auch herkömmliche Öl- und Gasunternehmen, für Net Zero einsetzen.
Paula Pinho 

Die Überzeugung, dass die Industrie die Dekarbonisierung einbezieht, lässt sie hoffen. „Es ist sehr vielversprechend zu sehen, dass sich viele Branchen, darunter auch herkömmliche Öl- und Gasunternehmen, für Net Zero einsetzen. Große Kohlenstoffdioxidemittenten verpflichten sich zur Dekarbonisierung in einer Weise, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre.“ Für die EU-Energieexpertin ist klar, dass Europa dies nicht allein stemmen kann. „Die EU ist für etwa 10 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Es gibt also weitere 90 Prozent, die bewältigt werden müssen.“ 

Vorschriften ebnen den Weg zum Wandel

Rechtsinstrumente sind wichtig, um den industriellen Wandel einzuleiten. Die Automobilbranche zum Beispiel hat in den letzten zehn Jahren hinsichtlich Energieeffizienz und Emissionen beachtliche Erfolge erzielt. Die Vorschläge der EU-Kommission vom Juli 2021 sehen ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der steigenden Emissionen im Straßenverkehr vor, das den Emissionshandel ergänzen soll. 

Global gesehen sind wir auf dem Weg in eine grüne und gerechte Zukunft, in der alle, vom Bürger über die Industrie bis hin zu den Behörden, Verantwortung übernehmen müssen.
Paula Pinho

Strengere Normen für CO2-Emissionen für Personenfahrzeuge und Lastwagen werden den Übergang zur emissionsfreien Mobilität beschleunigen. Autohersteller müssen die durchschnittlichen Emissionen von Neuwagen ab 2030 um 55 Prozent und ab 2035 um 100 Prozent gegenüber dem heutigen Stand senken. Dadurch werden ab 2035 alle neu zugelassenen Autos emissionsfrei sein.

 

Um sicherzustellen, dass Autofahrer ihre Fahrzeuge in einem zuverlässigen Netz in ganz Europa aufladen oder betanken können, verpflichtet die überarbeitete Richtlinie zum Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe die Mitgliedstaaten, die Ladekapazitäten im Einklang mit den Verkäufen von emissionsfreien Fahrzeugen auszubauen. Sie sollen in regelmäßigen Abständen Lade- und Betankungsstationen an den wichtigsten Schnellstraßen einrichten: Alle 60 Kilometer zum Aufladen von Elektrofahrzeugen und alle 150 Kilometer zum Betanken mit Wasserstoff. 

„Der Status Quo ist keine Option“

Paula Pinho ist hoffnungsvoll. „Die Quadratur des Kreises zwischen Angebot, Nachfrage, finanziellen Mitteln und den erforderlichen innovativen Technologien stellt eine Herausforderung dar. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass alle davon profitieren können. Regulierungsinstrumente können unter anderem dazu beitragen, alles miteinander zu verknüpfen und zu ermöglichen, dass Angebot und Nachfrage übereinstimmen und schließlich das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Global gesehen sind wir auf dem Weg in eine grüne und gerechte Zukunft, in der alle, vom Bürger über die Industrie bis hin zu den Behörden, Verantwortung übernehmen müssen.“

 

Mit Digitalisierung kann die EU ihre Ziele bis 2050 erreichen. Direktorin Pinho macht sehr deutlich, dass die EU niemanden zurücklässt. „Der Status Quo ist keine Option. Der Nutzen wird die Kosten bei weitem überwiegen. Ich weiß, dass es schwierig sein wird, aber es muss eine gerechte Energiewende sein, die für jeden Bürger erschwinglich ist. Und die Branche hat bereits verstanden, dass es keinen Weg zurück gibt. Das ist die wahre Dynamik.“

Was ist der European Green Deal?

Der von der EU-Kommission am 11. Dezember 2019 vorgestellte European Green Deal soll Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Das Europäische Klimagesetz, das im Juli 2021 in Kraft trat, kodifiziert die Verpflichtung der EU zur Klimaneutralität und das Zwischenziel, die Netto-THG-Emissionen bis 2030 gegenüber 1990 um mindestens 55 Prozent zu senken. Diese Verpflichtung wurde der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UN Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) im Dezember 2020 als Beitrag der EU zu den Zielen des Pariser Abkommens vorgelegt.

 

Infolge der bestehenden EU-Klima- und Energievorschriften sind die THG-Emissionen der EU gegenüber 1990 bereits um 24 Prozent gesunken. Gleichzeitig ist die EU-Wirtschaft im gleichen Zeitraum um rund 60 Prozent gewachsen, und das Wachstum wurde von den Emissionen entkoppelt. Daher bezieht sich die Zeitplanung für den Green Deal auf den bestehenden EU-Rechtsrahmen.

 

Bei der Ausarbeitung der Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Green Deal hat die EU-Kommission umfangreiche Folgenabschätzungen durchgeführt, um die Chancen und Kosten des Übergangs zu ermitteln. Im September 2020 zeigten diese, dass das erhöhte Ziel sowohl erreichbar als auch vorteilhaft ist. Die am 14. Juli 2021 veröffentlichten Gesetzesvorschläge der EU-Kommission werden durch Folgenabschätzungen gestützt, die auch andere Teile des Pakets berücksichtigen.

 

Der EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre wird die nachhaltige Wende unterstützen. Dreißig Prozent der Programme im Rahmen des mit 2 Billionen Euro angesetzten mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 und der Wiederaufbaufonds NextGenerationEU dienen der Unterstützung von Klimaschutzmaßnahmen. Darüber hinaus sind 37 Prozent der mit 723,8 Milliarden Euro angesetzten Aufbau- und Resilienzfazilität, mit der die nationalen Konjunkturprogramme der Mitgliedstaaten im Rahmen des NextGenerationEU finanziert werden, für Klimaschutzmaßnahmen vorgesehen. 

14. September 2021

 

Autoren: Erika Claessens ist eine unabhängige Journalistin und Redakteurin. Sie lebt und arbeitet in Antwerpen, Belgien. Christian De Neef arbeitet als Unternehmensberater und Diplomingenieur an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik. 

Bilder: Justin Jin

 

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